Alfred Adler als Redaktor seiner Falldarstellungen. Eine textkritische Analyse von Adlers Redaktionsarbeit bei den Neuauflagen seines Hauptwerks "Über den nervösen Charakter"

Karl Heinz Witte

Zusammenfassung: Wie spiegeln sich die theoretischen Positionen Alfred Adlers in den redaktionellen Schichten seines Hauptwerks? Hat sich Adlers Beurteilung seiner Patienten gewandelt?

Eine vergleichende Zusammenstellung und textkritische Analyse repräsentativer Beispiele aus dem "Nervösen Charakter" zeigt, daß Adler seine ursprünglich tiefenpsychologisch analytische Haltung mit wertenden und kognitiv pädagogischen Einschüben durchsetzt hat. Moderne Individualpsychologen haben diese kognitiv moralisierende Wende positiv aufgenommen; andere haben sich kritisch davon abgesetzt. Damit ist noch nicht die Schärfe und Tragweite der ursprünglichen Analysen Adlers wiedergewonnen.

Es wird argumentiert, daß Adler durch seine Redaktionsarbeit die ursprüngliche Neurosenlehre zwar nicht aufgegeben, aber durch die Gewichtsverlagerung Anlaß zu Mißverständnissen und Einseitigkeiten gegeben hat.

 

Inhalt

Die Varianten in den vier Auflagen

Veränderungen der Theorie Adlers im Spiegel der Neuauflagen

Gemeinschaftsgefühl

Das Ausweichen vor den Aufgaben des Lebens

Tilgung des "männlichen Protestes"

Abkehr von der Sexualität

"Das Fundament der individualpsychologischen Methode"

Patient A., der freigebige Stotterer

Symptome

Anamnese

Auslegung

Varianten

Patient B: der impotente Verführer

Anamnese

Symptome

Auslegung

Varianten

Druckfehlerteufeleien

Die Position der Varianten in der "frühen" Neurosenlehre Adlers

Adlers viergliedrige Neurosenlehre

Divergente Auffassungen über die Individualpsychologie

Primäre und sekundäre Ziele

Literatur

Das Buch "Über den nervösen Charakter" ist die programmatische Hauptschrift Alfred Adlers, die nach seiner Trennung von Sigmund Freud die eigene Lehre dem Fachpublikum vorstellen sollte.

Den damaligen Ohren waren Adlers Ausführungen über den Willen zur Macht und den männlichen Protest nicht verständlich. Das zeigen schon die radikalen Fehlurteile Freuds und der Freudschüler über Adlers theoretische Ansätze (vgl. Bruder-Bezzel 1983; Handlbauer 1990). Allerdings hat Adler seine Gedanken nie methodisch und begrifflich klar und unzweideutig ins reine gebracht. Darum mußte er mißverstanden werden. Die unsystematische Anlage des Werkes ist aber auch der Spiegel eines eigentümlichen persönlich und historisch bedingten Denkprozesses, dessen Erforschung erst in den Anfängen steht.

Ich will in diesem Aufsatz den Versuch machen, ein paar Linien der Denk- und Schreibbewegung Adlers nachzuzeichnen. Ich werde zunächst darstellen, wie die Veränderungen des Textes Veränderungen in der Sichtweise und Wertung widerspiegeln. Dann zeige ich, wie die neuen Gesichtspunkte die Patientenberichte färben, und schließlich versuche ich, die Veränderungen in den Kontext der ursprünglichen Neurosenlehre Adlers einzuordnen.

Die Ergebnisse meiner Untersuchung resultieren aus dem Anfangsstadium einer kritischen Ausgabe, in der, ausgehend vom Grundtext, die späteren Veränderungen als Varianten in einem kritischen Apparat hervorgehoben werden sollen. Die Edition wird im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie von Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn und mir vorbereitet. Bearbeitet ist inzwischen etwa die Hälfte des gesamten Textes. Die Auswertung stützt sich auf ein Drittel des Gesamtumfangs, und zwar auf eine etwa gleich große Stichprobe aus dem theoretischen und dem praktischen Teil. Die Stichprobe kann als repräsentativ für Adlers Arbeitsweise und als umfangreich genug betrachtet werden, so daß die Ergebnisse meiner Untersuchung als hinreichend gesichert gelten können. Sie werden sich durch die vollständige Edition des Werkes wahrscheinlich bekräftigen und differenzieren, aber nicht im wesentlichen ändern.

 

Die Varianten in den vier Auflagen

Es gibt von Alfred Adlers Hauptschrift vier Auflagen. Zuerst erschien sie 1912 im Verlag J. F. Bergmann, Wiesbaden, die zweite Auflage folgte 1919, also nach dem Ersten Weltkrieg, die dritte Auflage schon drei Jahre später, 1922, und die vierte Auflage im Jahre 1928. Diese letzte Auflage liegt dem Neudruck von 1972 zugrunde.

Auch wenn Adler überzeugt war, seine Theorie sei geradlinig und folgerichtig, ohne wesentliche Korrekturen fortentwickelt worden (Vorwort zur 4. Auflage, 1972, S. 29), so ist doch zu bemerken, daß er an der Ausgestaltung seiner Theorie, speziell an der Überarbeitung seines Hauptwerks, ständig interessiert war. Er hat den Grundtext in jeder Auflage so bearbeitet, daß die endgültige Fassung vom Jahre 1928 die Ablagerungen der verschiedenen aufeinanderfolgenden Überarbeitungen wie tektonische Gesteinsschichten darbietet. Der ahnungslose Leser kann allerdings nicht wissen, auf welchem historischen Boden er jeweils gerade wandert. Im Text selbst ist für ihn nicht erkennbar, welche Passagen ursprünglich im Jahr 1912 verfaßt wurden und welche Wörter oder Abschnitte, Umwandlungen oder Ergänzungen aus den späteren Jahren sind.

Um diesen Sachverhalt zu veranschaulichen, gebe ich in der folgenden Tabelle in der linken Spalte eine Seite des Textes der 4. Auflage von 1928 (1972, S. 48f.) wieder, die in den gegenwärtig gebräuchlichen Neuausgaben zu lesen ist. Der Druck hebt die Schichtung durch Unterstreichungen hervor. In der rechten Spalte ist derselbe Text abgedruckt, wie er in einer kritischen Ausgabe zu lesen wäre.

Text von 1928

So in erster Linie die große Verehrung der Mittel, die seiner Fiktion dienen sollen. Er wird in der Regel ein sorgfältig abgezirkeltes Benehmen, Genauigkeit, Pedanterie an den Tag legen, einerseits um die "großen Schwierigkeiten des Lebens" nicht zu vermehren, andererseits und hauptsächlich aber, um sich von anderen in der Arbeit, in der Kleidung, in der Moral abzuheben und so ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen. Regelmäßig verschaffen ihm diese Züge das Gefühl einer immensen Belastung, die ihm in Verbindung mit seinem Kranksein eine Helden- und Märtyrerrolle vorgaukelt. In der Überwindung dieser arrangierten, selbstgeschaffenen Schwierigkeit sucht und findet er noch einmal die Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls. Zu mindestens kann er sich auf den überwältigenden, unübersteiglichen Berg von Symptomen berufen, hinter dem er immer steht, wenn der Ruf an ihn ergeht: "wo warst du denn, als man die Welt verteilet!" Zumeist dient dieser verstärkte

Text einer kritischen Ausgabe

So in erster Linie die große Verehrung der Mittel, die seiner Fiktion dienen sollen. Er wird in der Regel1 ein sorgfältig abgezirkeltes Benehmen, Genauigkeit, Pedanterie an den Tag legen, einerseits um die "großen Schwierigkeiten des Lebens" nicht zu vermehren, andererseits und hauptsächlich aber, um sich von anderen in der Arbeit, in der Kleidung, in der Moral abzuheben und so ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen.2 Zumeist dient dieser verstärkte Charakterzug auch dazu, ihn mit dem "Feind" in Fühlung zu bringen, jene Situationen heranreifen zu lassen, die ihn mit seiner Umgebung in Konflikt bringen, damit er "berechtigte" Vorwürfe erheben könne. Gleichzeitig dienen diese ewigen Vorwürfe dazu, sein Gefühl, seine Aufmerksamkeit wach zu halten, sich zu beweisen, daß man ihn zurücksetze, nicht mit ihm rechne. Man findet diesen Zug schon in der Kindheit mancher Nervösen, wo er dazu verhilft, irgend jemanden in den Dienst zu stellen, etwa

Charakterzug auch dazu, ihn mit dem "Feind" in Fühlung zu bringen, jene Situationen heranreifen zu lassen, die ihn mit seiner Umgebung in Konflikt bringen, damit er "berechtigte" Vorwürfe erheben könne. Gleichzeitig dienen diese ewigen Vorwürfe dazu, sein Gefühl, seine Aufmerksamkeit wach zu halten, sich zu beweisen, daß man ihn zurücksetze, nicht mit ihm rechne. Man findet diesen Zug schon in der Kindheit mancher Nervösen, wo er dazu verhilft, irgend jemanden in den Dienst zu stellen, etwa die Mutter, die dann allabendlich längere Zeit die Kleider in streng vorgeschriebener Weise behandeln, immer anwesend sein muß, in der Behandlung der Kinder die Parität wahren muß usw. In diesem Falle mündet die neurotische Aktion oft in eine Lebensform, in der der Patient wie eine lebendige Anklage durchs Leben geht, seine Laster zeigt und gleichzeitig das Unrecht der andern. Ähnlich dringt oft die Angst und die Schüchternheit auffällig durch, und ich muß allen anderen Erklärungsversuchen gegenüber dabei verharren, daß das psychische Phänomen der Angst aus einer halluzinatorischen Erregung einer Bereitschaft

die Mutter, die dann allabendlich längere Zeit die Kleider in streng vorgeschriebener Weise behandeln3 muß4. Ähnlich dringt oft die Angst und die Schüchternheit auffällig durch, und ich muß allen anderen Erklärungsversuchen gegenüber dabei verharren, daß das psychische Phänomen der Angst aus einer halluzinatorischen Erregung einer Bereitschaft entsteht, die in der Kindheit aus kleinen Anfängen somatisch erwachsen ist, sobald eine körperliche Schädigung drohte, später aber, und insbesondere in der Neurose, durch den Endzweck bedingt ist, sich einer Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zu entziehen und5 andere Personen dienstbar zu machen6. - Es ist leicht zu verstehen, daß alle Begehrungsvorstellungen einen ungeheuren Grad erreichen können, ebenso wie das Erreichte selten Befriedigung gewährt. Man kann ruhig annehmen, daß jeder Neurotiker "alles haben will". Dieses Begehren deckt sich mit seiner leitenden Fiktion, der Stärkste sein zu wollen.7 Wenn er vor Ge[18]winn versprechenden Unternehmungen zurückschreckt, wie meist auch vor Verbrechen und unmoralischen Handlungen, so deshalb, weil er für sein

entsteht, die in der Kindheit aus kleinen Anfängen somatisch erwachsen ist, sobald eine körperliche Schädigung drohte, später aber, und insbesondere in der Neurose durch den Endzweck bedingt ist, sich einer Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zu entziehen und andere Personen dienstbar zu machen und sich durch eine entsprechende Einfühlung in die ängstliche Stimmung von den Forderungen des Lebens entheben zu lassen Die Angst stellt eine durchaus intelligente Funktion dar, die wie die ganze Lebensaktion in einem Teil das Streben darstellt, aus einer Phase des Minderwertigkeitsgefühls zur Überlegenheit zu gelangen . - Es ist leicht zu verstehen, daß alle Begehrungsvorstellungen einen ungeheuren Grad erreichen können, ebenso wie das Erreichte selten Befriedigung gewährt. Man kann ruhig annehmen, daß jeder Neurotiker "alles haben will". Dieses Begehren deckt sich mit seiner leitenden Fiktion, der Stärkste sein zu wollen. Ihm gelten nur die stärksten Beweise seiner Überlegenheit. Wenn er vor Ge[18]winn versprechenden

Persönlichkeitsgefühl fürchtet. Aus demselben Grunde scheut er oft vor der Lüge zurück, kann aber, um sicher zu gehen und sich vor Abwegen zu hüten, in sich das Bedenken nähren, daß er großer Laster und Verbrechen fähig wäre8.9 - Daß diese starre Verfolgung der Fiktion eine soziale Schädigung bedeutet, liegt auf der Hand.10

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1     in der Regel ] Ausl. 1928

2     Erg.: Regelmäßig verschaffen ihm diese Züge das Gefühl einer immensen Belastung, die ihm in Verbindung mit seinem Kranksein eine Helden- und Märtyrerrolle vorgaukelt. In der Überwindung dieser arrangierten, selbstgeschaffenen Schwierigkeit sucht und findet er noch einmal die Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls. Zu mindestens kann er sich auf den überwältigenden, unübersteiglichen Berg von Symptomen berufen, hinter dem er immer steht, wenn der Ruf an ihn ergeht: "wo warst du denn, als man die Welt verteilet!" 1922

3     Erg.: immer anwesend sein 1922

Unternehmungen zurückschreckt, wie meist auch vor Verbrechen und unmoralischen Handlungen, so deshalb, weil er für sein Persönlichkeitsgefühl fürchtet. Aus demselben Grunde scheut er oft vor der Lüge zurück, kann aber, um sicher zu gehen und sich vor Abwegen zu hüten, in sich das Bedenken nähren, daß er großer Laster und Verbrechen fähig wäre. Was durch den Mangel seines Gemeinschaftsgefühls, durch seine Gleichgültigkeit oder durch seinen Haß gegen die Mitmenschen erleichtert wird. Ein anknüpfendes Schuldgefühl in der Neurose ist immer auf den gleichen Endzweck der Überlegenheit zugespitzt, ebenso wie überspannte Religiosität. "Gewissenhaft bin ich auch!" Oder es dient zur Ablehnung einer bevorstehenden Aufgabe. "Gewissensbisse sind unanständig", urteilt Nietzsche. Ihm mag dieser Sachverhalt bekannt gewesen sein. - Daß diese starre Verfolgung der Fiktion eine soziale Schädigung bedeutet, liegt auf der Hand. Sie führt durch tendenziöse Übertreibung und sophistische Spitzfindigkeit zur Leistungsunfähigkeit zur Enthebung .

4     Erg.: in der Behandlung der Kinder die Parität wahren muß usw. 1922     Erg.: In diesem Falle mündet die neurotische Aktion oft in eine Lebensform, in der der Patient wie eine lebendige Anklage durchs Leben geht, seine Laster zeigt und gleichzeitig das Unrecht der andern. 1928

5     und ] Ausl. 1919

6     Erg.: und sich durch eine entsprechende Einfühlung in die ängstliche Stimmung von den Forderungen des Lebens entheben zu lassen 1919     Erg.: Die Angst stellt eine durchaus intelligente Funktion dar, die wie die ganze Lebensaktion in einem Teil das Streben darstellt, aus einer Phase des Minderwertigkeitsgefühls zur Überlegenheit zu gelangen 1928

7     Erg.: Ihm gelten nur die stärksten Beweise seiner Überlegenheit. 1928

8     Anm.: Was durch den Mangel seines Gemeinschaftsgefühls, durch seine Gleichgültigkeit oder durch seinen Haß gegen die Mitmenschen erleichtert wird. 1922

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Legende: Durch einfache Unterstreichung sind die Textpassagen gekennzeichnet, die 1919 hinzugefügt wurden, doppelt unterstrichen ist der Text von 1922, und die Einträge von 1928 stehen unterstrichen in Kapitälchen. Durchgestrichene Textteile finden sich nur in der ersten Auflage.

9     Erg.: Ein anknüpfendes Schuldgefühl in der Neurose ist immer auf den gleichen Endzweck der Überlegenheit zugespitzt, ebenso wie überspannte Religiosität. "Gewissenhaft bin ich auch!" Oder es dient zur Ablehnung einer bevorstehenden Aufgabe. "Gewissensbisse sind unanständig", urteilt Nietzsche. Ihm mag dieser Sachverhalt bekannt gewesen sein. 1922

10     Erg.: Sie führt durch tendenziöse Übertreibung und sophistische Spitzfindigkeit zur Leistungsunfähigkeit [Erg.: zur Enthebung 1922]. 1919

 

Veränderungen der Theorie Adlers im Spiegel der Neuauflagen

Das gesamte Material der ausgewerteten Varianten bildet einen Block von 615 Einzeleinträgen. Davon wurde der größte Teil der Veränderungen in den ersten beiden Neuauflagen durchgeführt, etwa gleich viel in der zweiten (240) und in der dritten (236) Auflage und nicht einmal ein Viertel des Gesamtvariantenumfangs (139) in der vierten Auflage. Dabei machen Ergänzungen den größten Teil der Veränderungen aus (309), neben Änderungen (232) des Wortlauts und Auslassungen (74).

Wenn wir als Autoren unsere eigenen Texte bearbeiten, werden wir vor allem stilistische Verbesserungen oder Klärungen bestimmter Passagen vornehmen. So natürlich auch Alfred Adler. Den größten Umfang aller Textvarianten nehmen sprachliche Verbesserungen und textliche Verdeutlichungen ein. Sie werden im folgenden nicht berücksichtigt. Auch Hinweise auf eigene Veröffentlichungen, die in den späteren Auflagen in die Fußnoten aufgenommen werden, können wir zu diesem Komplex der verdeutlichenden Varianten rechnen. Auch diese Textstellen bedürfen hier keines Kommentars.

Gibt es aber auch Neues? Ja, es sind etwa 38 % aller Varianten (233), die gedankliche Neuanstöße bieten, theoretische Gewichtsverlagerungen oder Neubewertungen, die Adler in den späteren Auflagen besonders wichtig wurden.

Was sind das nun für Themen, die neu hinzukommen? Um eine Zusammenschau möglich zu machen, müssen wir natürlich die einzelnen neuen Formulierungen zu Überbegriffen zusammenfügen. Ich werde im folgenden an Beispielen zeigen, wie sich die einzelnen Textblöcke konstituieren. Es ergeben sich vier große und für die Theorieentwicklung wichtige Gruppen, die allesamt als wesentliche Bestandteile, ja Kennmale der Theorie Adlers gelten. Sie sind in den charakteristischen, zugespitzten Formulierungen erst seit 1919 eingefügt worden.

1.

Die Einführung des Gemeinschaftsgefühls als Kriterium der Normalität, mit anderen Worten: der Mangel des Gemeinschaftsgefühls als Hauptcharakteristikum des Neurotikers,

2.

die Hervorhebung der Züge des Distanzierungsstrebens im "nervösen Charakter", d. h. die Vermeidung der gefürchteten Niederlage und damit verbunden die Tendenz, den Aufgaben des Lebens auszuweichen und die Probleme ungelöst zu lassen,

3.

eine stärkere Vernachlässigung, ja Ausblendung der Sexualität,

4.

die Abschwächung des hermaphroditischen Gesichtspunkts bzw. des männlichen Protestes zugunsten des allgemeinen Überlegenheitsstrebens.

Ich werde versuchen, diese Blöcke etwas aufzulösen und Beispiele für ihre Zusammensetzung zu geben.

 

Gemeinschaftsgefühl

Was bedeutet also die Einführung des Gemeinschaftsgefühls für die Textgestalt des 'Nervösen Charakters'? Man kann die Eintragungen dieser Gattung in vier Gruppen zusammenfassen. Dem Neurotiker werden verstärkt angelastet:

1.

die feindselige, antisoziale Haltung (18),

2.

die Egozentrik, der Egoismus (16),

3.

die Abwendung von der Norm, der Sprache, der Gemeinschaft (11),

4.

die Feigheit, die Falschheit (10),

5.

die Verlagerung von der "nützlichen" auf die "unnützliche Seite des Lebens" (5).

Nachdem Adler den ersten Patienten vorgestellt hat, genauer: dessen Geiz und Herrschsucht, die sich unter dem Mantel der Güte und Freigebigkeit verstecken, schreibt er: "Es wäre ein Unding, in einer medizinisch-psychologischen Frage einen Standpunkt der Moral einnehmen zu wollen, etwa Personen wie die obige als moralisch minderwertig zu beurteilen. Diejenigen, die Neigung dazu verspüren, erinnere ich an die überaus starken, kompensatorischen, wertvollen Charakterzüge" (1972, S. 113). Adler hat also "die überaus starken, kompensatorischen, wertvollen Charakterzüge" des Neurotikers gesehen, das ist ja gerade die Besonderheit seiner frühen Kompensationstheorie. Danach sind die wertvollen Züge des kulturell positiven und produktiven Menschen nach demselben Kompensationsprinzip gebildet wie die Symptome des Neurotikers (1972, S. 67-69).

Nun kann man aber die moralische Entrüstung und die Verurteilungen nicht überhören, mit denen Adler den "nervösen Charakter" abqualifiziert. Sie haben schon manchem die Lektüre verleidet. Dieser Ton fehlt in der ersten Auflage nicht ganz, aber er verschärft sich seit der 2. Auflage 1919 zusammen mit der Entdeckung des Gemeinschaftsgefühls nach dem Ersten Weltkrieg.

Hier einige Beispiele:

·

"Der Lebensplan aber lautet: Isolierung, Ablehnung des Gemeinschaftsgefühls und Ausmerzung aller Fähigkeit zur Hingabe, - weil das Aufgehen in der Gemeinschaft vom Machtstreben als hinderlich empfunden wird. Den Kontakt mit der Gemeinschaft halten am stärksten aufrecht: Sprache, Sexualität und Liebe, Beruf und Tatbereitschaft. An diesen Punkten setzt die Neurose zerstörend ein" (1919, S.101; 1972, S. 155).

·

"(oder daß er weibliche Symptome trotzig) oder feige (fixiert)" (1919, S. 82; 1972, S. 132).

·

"... indem er sich in der Rolle des Gebenden zeigt, während er der einzig Nehmende ist" (1919, S. 64; 1922, S. 68; 1972, S. 107).

·

"Was durch den Mangel seines Gemeinschaftsgefühls, durch seine Gleichgültigkeit oder durch seinen Haß gegen die Mitmenschen erleichtert wird" (1922, S. 19; 1972, S. 50).

·

"Aus der resultierenden Haltung eines Angreifers oder Angegriffenen erwächst dem Nervösen der Eindruck einer besonderen Feindseligkeit des Lebens. Seine Einfügung in die Gemeinschaft ist fortan gehindert, Beruf, Gesellschaft und Liebe fügen sich nicht seiner Kämpferstellung, werden meist scheu umgangen oder bilden bestenfalls den Tummelplatz seines ehrgeizigen Machtrausches. Eine tief pessimistische Weltanschauung und sein Menschenhaß bringen ihn um alle Freuden des gebenden Mitspielers. Die Stimmung des Nehmen-Wollens hat ihn ganz erfüllt, vergiftet ihn mit Unzufriedenheit und zwingt ihn, immer an sich und nie an die andern zu denken" (1922, S. 25; 1972, S. 57).

·

"In diesem Falle mündet die neurotische Aktion oft in eine Lebensform, in der der Patient wie eine lebendige Anklage durchs Leben geht, seine Laster zeigt und gleichzeitig das Unrecht der andern" (1928, S. 17; 1972, S. 49).

·

"... der schäbige Rest, der übrig bleibt, wenn die nützliche Seite des Lebens hoffnungslos verlassen wird" (1928, S. 96; 1972, S. 139).

 

Das Ausweichen vor den Aufgaben des Lebens

Die Charakteristik der zögernden Haltung des Neurotikers ist allgemein so gut bekannt, daß ich hieran nur zu erinnern brauche. Ich will lediglich ein paar Sprachfloskeln nennen, die für diesen Komplex typisch sind.

·

"An die Oberfläche dringt nur der Protestgedanke: 'ich will die Frage meines Lebens nicht lösen!'" (1919, S. 84; 1972, S. 133)

·

"Sie hat die Aufgabe den Patienten mit Aufregungen zu laden, zu präokkupieren und fürs Leben untauglich zu machen" (1919, S. 90; 1972, S. 141).

·

"Gleichzeitig damit erfolgt der Rückzug aus der Gesellschaft. (1919, S. 99) und von der nützlichen Seite des Lebens" (1928, S. 107; 1972, S. 153).

·

"Sie führt durch tendenziöse Übertreibung und sophistische Spitzfindigkeit zur Leistungsunfähigkeit [Erg.: zur Enthebung 1922]" (1919, S. 18; 1972, S. 50).

·

Der Neurotiker solle einen anderen Weg "als den des Wegsehens" einschlagen (1928, S. 20; 1972, S. 52).

·

"Gleichzeitig sorgte er so für seine Enthebung, um den Gott, den er im Busen trug, nicht auf die Probe stellen zu müssen" (1922, S. 69; 1972, S. 108).

·

"... durch Häufung von unsinnigen Schwierigkeiten überlegen" (1922, S. 18; 1972, S. 48).

·

"Vorherrschend ist bei allen Stotterern die Sucht nach Verzärtelung und nach mildernden Umständen" (1928, S. 70; 1972, S. 109).

·

"Die Enthebung von hervorstehenden Forderungen des Lebens, die Hinausschiebung der Lösung einer Lebensfrage oder die Gewinnung mildernder Bedingungen wird sekundäres, ideales Ziel" (1919, S. 21; 1972, S. 54).

 

Tilgung des "männlichen Protestes"

Nur kurz erwähnen will ich, daß Adler in der Auflage von 1928 konsequent die Theorie des männlichen Protestes zurückgedrängt hat.

·

Die allgemeine Gleichsetzung des Schemas Oben/Unten mit Männlich/Weiblich wird im theoretischen Teil zwar noch erläutert. Im praktischen Teil, bei den Fallbesprechungen wird aber der Ausdruck "männlicher Protest" überall durch den Ausdruck "Überlegenheit" oder ähnliche ersetzt (z. B. 1928, S. 14, 16, 82, 83f; 1972, S. 45, 48, 123, 124).

·

Statt von dem Wunsch des Mannes oder der Frau, ein ganzer "Mann sein zu wollen", spricht er nun von "neurotischer Überlegenheit" oder allgemein von dem Wunsch, "überlegen sein zu wollen". Anstelle der Formulierung einer Frau, sie wolle "so handeln, als ob ich ein voller Mann wäre", sagt er jetzt, sie wolle "so handeln, daß ich einer Niederlage entgehe" (z. B. 1912, S. 83, S. 78; 1919, S. 83; 1972, S. 124, 132).

 

Abkehr von der Sexualität

Wie die Distanzierung von konkreten sexuellen Sachverhalten und Deutungen in den späteren Auflagen aussieht, will ich nun an zwei Fallschilderungen Adlers zeigen. Sie sollen zugleich die praktische Neurosenlehre der Frühschriften Adlers in Erinnerung bringen.

Doch zuvor ist eine allgemeine Vorbemerkung angebracht:

 

"Das Fundament der individualpsychologischen Methode"

Auch der wohlwollende Leser hat mit der Schreibweise Adlers Schwierigkeiten. Das liegt nicht nur am Stil, an der Wortwahl, an der gedrängten Formulierung, sondern vor allem an der Gedankenführung. Das Werk hat keinen Aufbau, es ist nicht gegliedert in die Grundlegung bestimmter theoretischer Prinzipien oder Annahmen, um dann zu theoretischen oder praktischen Anwendungen voranzuschreiten. So ist auch der "Praktische Teil" seines Hauptwerkes durchsetzt von theoretischen Erläuterungen. Die theoretischen Prinzipien und die Beispiele werden nicht getrennt, sondern ineinander verwoben. Auch die Falldarstellungen folgen keiner erkennbaren begrifflichen Ordnung, sondern werden von Einfällen und polemischen Intentionen zu Exkursen und Wiederholungen getrieben. Solange man eine lehrbuchähnliche Disposition oder Orientierung erwartet, kann man sich beim Lesen nur ärgern.

Jedoch scheint dieses Vorgehen nicht nur einer Laune oder Nachlässigkeit zu entspringen. Adlers Schreibweise folgt vielmehr einer "Denkform" (Leisegang 1951; Meier 1972), die in der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts keine Konjunktur hat: Sie ist zyklisch und aphoristisch. Das heißt, pragmatisch ausgedrückt: Man kann sein Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen, um zu lesen, und man liest immer und überall das Ganze. Wir erinnern uns der Grundannahme Adlers, die er als das "Fundament der individualpsychologischen Methode" bezeichnet hat (1972, S. 226): In jedem Teil der seelischen Bewegung, in jedem psychischen Phänomen, in jeder Geste könne das Ganze des Individuums erahnt werden.

Hat diese Übereinstimmung zwischen der Schreibweise Adlers und dem "Fundament der individualpsychologischen Methode" vielleicht eine prinzipielle Bedeutung für die individualpsychologische Wissenschaftstheorie bzw. Hermeneutik? Vielleicht liegt hierin, tiefer noch als in den theoretischen Anleihen, ein Einfluß Nietzsches. Es wäre eine interessante literaturwissenschaftliche Aufgabe, der assoziativen, zirkulären Denk- und Schreibweise Adlers nachzugehen, nicht mit dem Ziel einer Systematisierung der Theorie, sondern um die Brenn- und Quellpunkte, die konzentrischen Kreise, die Dimensionen und Schichtungen seines Denkimpulses und seiner Ausdrucksformen aufzuspüren und zur Anschauung zu bringen.

Doch zunächst ist um des Verständnisses willen die assoziative Gedankenführung Adlers zu ordnen. Ich referiere seine Fallbeispiele, indem ich die Angaben zur Symptomatik, zur Anamnese und seine neurosenpsychologischen Deutungen, die im Text ineinandergehen, trenne.

 

Patient A., der freigebige Stotterer

Adler will an diesem Beispiel zeigen, daß der "Nervöse" durch die Tendenz beherrscht wird, "der erste sein zu wollen", "alles haben zu wollen", mit anderen Worten: durch eine Machttendenz oder durch "verstärkten Aggressiontrieb" (1972, S. 106). Diese Tendenz herrsche auch da, wo das Gegenteil offenkundig zu sein scheint, wo nämlich Züge der Uneigennützigkeit und Güte im Vordergrund stehen. Hier seien die Herrschsucht und der Geiz verborgen wirksam, weil die Realität oder das eigene schlechte Gewissen den Patienten an der offenen Aggression hindere.

 

Symptome

Als Symptome werden vor allem Stottern und Depression genannt. In der Pubertät trat eine Zwangshandlung mit Zählzwang auf.

 

Anamnese

Seit dem 1. Lebensjahr litt das Kind an heftigen Magen- und Darmbeschwerden und, damit verbunden, an Neidgefühlen, wenn die anderen Familienmitglieder schmausten. Schon in der Kindheit schuf der Knabe sich einen Ersatz. Er sammelte Speisen, Bonbons und Früchte. Aus der Kindheit wird zudem eine Unsicherheit über die Geschlechtsrolle berichtet, die im Zusammenhang mit sexueller Neugier stand. Der Junge habe seine kleinen Genitalien mit den großen des Vaters verglichen und mit gesteigertem Schamgefühl reagiert. Er wurde ein erfolgreicher Schüler. In der Schulzeit entwickelte sich der Wunsch, ein guter, freigebiger und hilfreicher Mensch zu werden. Er unterzog sich jeden Abend einer Gewissenserforschung, um sich zu bessern.

 

Auslegung

Als kindliche Belastungen betrachtet Adler die frühen Magen- und Darmstörungen und die sexuelle Unsicherheit des Kindes wegen der Kleinheit seiner Genitalien. Seine Kompensation sei nicht, wie sonst häufig zu beobachten, die Masturbation und sexuelle Frühreife gewesen, sondern die Entwertung der Frau und der Versuch, reicher, klüger und angesehener zu werden als der Vater. Dieser wird als sparsam, ehrgeizig und herrschsüchtig geschildert. Allerdings konnte der Patient das Ziel, dem Vater überlegen zu werden, nicht auf direktem Wege erreichen. Er vereitelte dem Vater vielmehr die Freude, den Sohn als erfolgreichen Juristen zu sehen. Er begann zu stottern. Der Sprachfehler beeinträchtigte ihn zwar im Beruf, war aber kein Hindernis in der Liebeswerbung. Der Wunsch, ein gütiger Mensch zu werden, deckt das unmittelbare Ziel, durch Geiz und Herrschsucht überlegen zu sein, nur oberflächlich zu. Der Geiz kommt in der Analyse bei der Besprechung einer Fehlleistung zutage. Die Aggression unter der Decke der guten Absicht kommt auch in seinem kämpferischen Einsatz für das Judentum zum Ausdruck, mit dem ein Zwangssymptom in Verbindung steht: Wenn er ein Schwimmbad betrat, mußte er untertauchen, die Genitalien bedecken und bis 49 zählen. Die Symbolik der Reinigung, des Unterauchens, der Scham für die Genitalien und der Rekonstitution (49: das Jubeljahr der Israeliten, in dem die Güter wieder gleichgemacht werden sollten) ist deutlich genug.

Wir können Adlers Auslegung der neurotischen Störung und der dazugehörigen Charakterform zusammenfassen: Geiz und Sparsamkeit sind die Charakterzüge, die zum Ziel, größer und besser zu werden als der Vater, gehören; ebenso sind Ehrgeiz und Herrschsucht die Ersatzmittel, dem Vater mit seinen großen Genitalien überlegen zu werden. Diese Tendenzen sind verdeckt, verborgen, vielleicht sogar unbewußt. Vorherrschend sind zusammen mit dem Stottern der Erfolg im Leben, die Güte, Freigebigkeit und der Einsatz für das Judentum.

 

Varianten

Schauen wir uns nun die Varianten an, die Adler in die späteren Bearbeitungen dieses Fallberichts einstreut.

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Ein Hinweis auf eine mögliche Verdrängung des Geizes "oder eine(r) entsprechende(n) Sexualregung" wird ausgelassen (1912, S. 64; 1972, S. 107).

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"Gleichzeitig sorgte er so für seine Enthebung, um den Gott, den er im Busen trug, nicht auf die Probe stellen zu müssen" (1922, S. 65; 1972, S. 108f.).

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Stottern "als Ausdruck des Zögerns bei ehrgeizigen Menschen, die vorübergehend oder dauernd den Glauben an sich verloren haben" (ebd.).

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"Vorherrschend ist bei allen Stotterern die Sucht nach Verzärtelung und nach mildernden Umständen" (1928, S. 70; 1972, S. 205)-

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Ursprünglich heißt es: "Das starke Hervortreten der Leitlinie zum Vaterideal ist bereits ein neurotischer Zug, denn in ihm können wir die ganze Not dieses Kindes begreifen, das aus seiner Unsicherheit heraus will" (1912, S. 66; 1972, S. 110). Ergänzt wird, daß das Kind "unsicher geworden" (1919; S. 66)sei. Neben der Not wird "seine Überspannung" (1922, S. 70) hervorgehoben. Die aktive kompensatorische Linie wird zugunsten der Distanz abgeschwächt; darum fällt die Bemerkung, daß "das (Kind) aus seiner Unsicherheit heraus will" seit 1919 weg. Dafür wird kurz darauf in unmittelbarem Zusammenhang ergänzt, daß "das in solchem Falle überschätzte Ziel gleichzeitig abschreckt" (1919, S. 66; 1972, S. 110).

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Daß der Patient als Kind seine Kleinheit dem Vater gegenüber als "eine herbe Zurücksetzung, als Mangel an Männlichkeit empfand", wird der Konkretheit beraubt, in der zuvor von der "Kleinheit seiner kindlichen Genitalien gegenüber der Größe der väterlichen" (1912, S. 66; 1919, S. 67; hervorgehoben von Adler) gesprochen wurde.

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Auch die Kompensationsversuche werden anfangs ganz konkret gefaßt: "Folgerichtig hätte er, wie es häufig in ähnlichen Fällen geschieht, Versuche unternehmen müssen, um sein Genitale zur Vergrößerung, zur Erektion zu bringen. Dieser Weg, der zu sexueller Frühreife und Masturbation führt, wurde bald von ihm verlassen, weil ihn der Vater mehrmals davon abschreckte" (1912, S. 67). Dieser Satz fällt in der zweiten Auflage weg (1919, S. 67; 1972, S. 110).

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Seine "Versuche, reicher, angesehener, klüger wie der Vater zu werden, und seine Umgebung herabzusetzen" (1912, S. 67), werden kommentiert: "Dieses Streben erfüllte ihn nach zahlreichen vergeblichen Versuchen mit Zaghaftigkeit und Vorsicht" (1922, S. 71; 1972, S. 110).

·

Als subjektive Entlastung wird ergänzt: "Gleichzeitig erschien das Stottern ihm und der Umgebung als unverschuldete, rätselhafte Schranke seiner Leistungsfähigkeit" (1919, S. 68; 1972, S. 112).

Die Einfügungen betonen die sekundären Ziele, die Distanz und die scheinbare soziale Anpassung. Nun sollte es - im Gegensatz dazu - gerade das Leitprinzip der Darstellung dieses Falles sein, die aktiven "aggressiven" Züge, den Geiz, die Herrschsucht, das Ziel, alles haben zu wollen, als unbewußte Motive zu erweisen, die sich unter dem Schein der sozialen Güte verbergen, so hatte Adler am Anfang der Vorstellung gesagt. Auffallend ist also, daß die Ergänzungen Adlers nicht die Ziele der Überwindung und der Kompensation verstärken, sondern die Enthebung und Vorsicht. Auch die sexuellen Inhalte des Minderwertigkeitsgefühls werden verschwiegen.

 

Patient B: der impotente Verführer

Das letzte ist eine immer wiederkehrende Erscheinung. Beinahe alle konkreten Erwähnungen der Sexualität bzw. der Genitalien werden ausgetilgt. Man könnte das für ein bißchen prüde halten. Doch es ist darüber hinaus tendenziös; denn Adler hat aus dem Bestreben, Mißverständnisse zu vermeiden, gelegentlich auch solche sexuellen Begebenheiten in der Anamnese unterschlagen, die wir zum Verständnis des Patienten nicht entbehren möchten. Wie das aussieht, will ich an der folgenden Falldarstellung zeigen.

 

Anamnese

Aus der Anamnese sind Magen-Darm-Störungen und Kryptorchismus bekannt. Der Vater sei brutal, egoistisch, tyrannisch gewesen und habe durch unglückliche Liebesabenteuer ein abschreckendes Beispiel geliefert.

Der Patient wuchs als einziger Knabe unter lauter Schwestern auf.

Mit 8 Jahren "wäre er fast einem Homosexuellen zum Opfer gefallen", wie Adler formuliert. Er "nahm in der Pubertät auch an einer Vergewaltigung teil". Wir werden gleich sehen, daß beides offenbar doch nicht so harmlos war, wie es klingt. Ein Dienstmädchen, das er - ebenfalls in der Pubertät - verführen wollte, verweigerte sich ihm.

 

Symptome

Bei Behandlungsbeginn leidet der Patient an Impotenz und Suizidgedanken. Er verführt verheiratete Frauen, frustriert sie durch Ejaculatio praecox und entwertet sie durch verbale Beleidigungen. Er beklagt sich über Gewaltphantasien, Inzestgedanken, Liebessucht, Zwangsvorstellungen von Unfällen im Auto.

 

Auslegung

Adler nimmt eine Wende in der Lebenslinie dieses Patienten an. "Der leitende Gesichtspunkt, Herrschaft zu gewinnen, war bedroht und zwingt zur Verstärkung der fiktiven Richtungslinien" (1972, S. 113). Hier liegt also eine stärkere Entmutigung vor, ein verschärftes Minderwertigkeitsgefühl. Der Patient habe die Gefühle der Minderwertigkeit in ein sexuelles Bild gebracht: Der Homosexuelle habe ihn als Mädchen nehmen wollen. Der ursprüngliche Konpensationsversuch, es dem Vater gleich zu tun, führte den Jungen zunächst auf eine gewalttätige Bahn: Er wird Fleischhauer wie sein Vater, nimmt an einer Vergewaltigung teil und versucht, das Dienstmädchen zu verführen. Als diese sich verweigert, glaubt er, er sei impotent. Er bekommt auch Angst vor strafrechtlichen Folgen seiner Gewalttaten. Nun setzt er seine männliche Linie auf heimlicheren Wegen fort als impotenter Verführer, der gewaltige Phantasien von seiner Triebhaftigkeit hat, gequält von Inzestgedanken und Zwangsgedanken von Unfällen, die ihn beide davor warnen, seine Liebesabenteuer zu weit zu treiben. Zugleich kann er so mit den (Ehe-)Männern wetteifern und die Frauen demütigen.

So weit Adlers Auslegung.

Ich stelle die vier Komponenten der neurotischen Psychodynamik zusammen:

1.

Als Belastung in der Kindheit ein brutaler Vater und Mißbrauch durch einen Homosexuellen.

2.

Das fiktive Persönlichkeitsideal mit seiner Konkretisierung: Der Ausgleich soll zu Stärke, Potenz und Sicherheit führen. Zunächst wird dieses Ziel direkt nach dem Vorbild des Vaters gewalttätig angestrebt; doch stellen sich Angst vor Strafe und Versagen in den Weg.

3.

Die Symptome: Impotenz, perverse Sexualphantasien und Zwangsgrübeleien zeigen die Janusköpfigkeit des Symptoms, das anstachelnde Vorwärts und das warnende Zurück.

4.

Die Ersatzziele, die sekundären Leitlinien: In verschleierter, für Adlers Neurosendefinition charakteristischer Ausprägung wird die auf Überlegenheit gerichtete Zielfiktion durch Don-Juanismus, Selbstgerechtigkeit und Geiz konkretisiert.

 

Varianten

Betrachten wir die Veränderungen, die Adler in diesen Fallbericht eingeführt hat. Dabei berücksichtige ich in diesem Beispiel nur die Varianten, die die Sexualität betreffen, nicht diejenigen des Typus der Distanzierung, die ähnlich klingen, wie im vorausgehenden Beispiel. Adler verbannt nachträglich aus diesem Fallbericht besonders schwerwiegende sexuelle Fakten. Er will zweifellos dem Mißverständnis zuvorkommen, die sexuellen Traumata und Fehlhandlungen seien kausal determinierend für die Neurose. Dabei werden aber sexuelle Umstände verschwiegen, die den Patienten schwer belastet haben müssen und die zum psychodynamischen Gesamtbild seiner Neurose gehören, ob man nun der Triebtheorie anhängt oder nicht.

·

Eine harmlose Pikanterie wird dem Leser seit 1919 vorenthalten: nämlich, daß sich das verführte Dienstmädchen dem Jüngling "mit geschlossenen Beinen" verweigerte (1912, S. 70; 1972, S. 116).

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Zunächst zur kindlichen Belastung: Das Minderwertigkeitsgefühl sei in ein sexuelles Bild gekleidet. Grund dazu sei ihm gewesen, daß ihn "der Homosexuelle (habe) als Mädchen nehmen wollen!", ferner führte er ihn auf einen "gelegentlichen Kryptorchismus (zurück), der durch einen offenen Leistenkanal verschuldet war". In der ersten Auflage heißt es dann weiter: "Als er 8 Jahre alt war, beobachtete er einen Knaben bei der Masturbation. Hic puer ei semen ejaculavit in os, was er als ein weiteres Zeichen seiner weiblichen Rolle empfand." Dieser Satz wird in der zweiten und den folgenden Auflagen ausgelassen. (1912, S. 69; 1972, S. 114)

·

Als Kompensationslinie wird in der Pubertät die aggressive, dominante Haltung des Vaters angestrebt. An einem Höhepunkt dieser grobianischen Entwicklung führt er nun selbst eine Vergewaltigung aus, gleichsam als Umwandlung des Passiven ins Aktive: "Rohe Neigungen betätigte er auch gerne an Mädchen und Frauen, er biß sie, schlug sie und nahm auch einmal an einer Vergewaltigung teil." Wieder werden seit 1919 die konkreten sexuellen Umstände und die seltsame Motivation verschwiegen: Die Erstauflage hatte von einer Vergewaltigung gesprochen, "bei der er den Coitus per anum ausführte, um nicht etwa zu Alimenten verpflichtet zu werden." Liegt in der Formulierung: "Er nahm ... teil", ein Hinweis darauf, daß mehrere Männer an diesem Gewaltexzeß beteiligt waren? Jedenfalls wird er für den Patienten zu einem Schreckens- und Wendepunkt: Denn: "Dieses Erlebnis ... drängte ihn ... auf einen neurotischen Umweg." Er sucht seine Sicherung von nun an in Verführung, Eifersucht, Rechthaberei und besondrerVorsicht. (1912, S. 69; 1972, S. 114)

Diese Beispiele zeigen besonders deutlich, eine Tendenz Adlers auf, die sonst nicht so drastisch in die Augen springt. Es ist das Zurückdrängen der realen Belastung oder des realen Mangels, aus denen das kindliche Minderwertigkeitsgefühl entspringt. Adler legte mit Recht Wert darauf, daß die subjektive Stellungnahme wesentlich sei. Aber ist es nicht auch wichtig, was geschieht und wozu einer mit Minderwertigkeitsgefühl, mit Steigerung der Aggression oder mit Vermeidungstendenzen Stellung nimmt? Die realen Umstände der kindlichen Belastung treten in den Neuauflagen zunehmend in den Hintergrund. Das betrifft nicht nur, aber in besonders starkem Maße die Sexualität.

 

Druckfehlerteufeleien

Nach diesen ernstzunehmenden, für die theoretische und praktische Grundhaltung der Individualpsychologie kritischen Veränderungen sollen nun, sozusagen zur Entspannung, auch ein paar rätselhafte oder amüsante "Textverbesserungen" mitgeteilt werden.

Banal oder witzig oder tiefgründig - je nach Laune des Lesers - mag die folgende Variante sein: Adler zählt somatische Erscheinungen auf, die der Patientin/dem Patienten leicht den Gedanken an eine sexuelle Minderwertigkeit nahelegen könnten: "geringfügige Veränderungen oder gar eingebildete, fiktive, wie vermeintlicher Verlust der Klitoris, Vergrößerung der Labia minora, Feuchtwerden der Öffnung, sagenhafte Merkmale der Masturbation etc. oder Behaarungsanomalien, Phimose, paraurethrale Gänge und asymmetrische Haltung des Penis, der Testiculi, Kryptorchismus (können leicht) zum Anlaß und Symbol des Minderwertigkeitsgefühls genommen werden." Statt des Wortes "Behaarungsanomalien" schreibt Adler 1928 "Beharrungssanomalien" (1912, S. 78; 1928, S. 85; 1972, S. 126). Das gibt sicher Anlaß zu feinsinnigen Interpretationen.

Eine eher spaßige Variante ist vielleicht nicht Adler selbst, sondern dem Setzer des Druckstocks zu verdanken. Adler weist hier auf seinen Aufsatz "Über den Aggressionstrieb" (1908) hin. In der dritten und vierten Auflage spricht er an dieser Stelle vom "Aggressionsbetrieb" (1912, S. 9; 1922, S. 10; 1928, S. 8; 1972, S. 38; hier von Metzger korrigiert). Vielleicht hat der Druckfehlerteufel gewußt, daß in der ganzen Adler-Freud-Kontroverse nicht nur sachliche Differenzen, sondern auch ein blühender "Aggressionsbetrieb" am Werke waren.

Und was ist von der folgenden Adlerschen Fehlleistung zu halten? Gleich im Vorwort zur ersten Auflage 1919 formuliert Adler das Grundprinzip seiner Lehre, das er an anderer Stelle das "Fundament der individualpsychologieschen Methode" (s. o. S.*) nennt: "Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplanes, der in der Psychologie der Neurosen und Psychosen nur deutlicher zutage tritt" (1912, S. 1; 1972, S. 25). War dann nur der Druckfehlerteufel am Werke oder ist es das Resultat einer geheimen Verschwörung, welche die Adlersche zu einer Freudschen Fehlleistung gemacht hat? Man liest von 1922 bis 1928 in diesem Satz da, wo in der ersten Auflage "Individualpsychologie" steht, die Schlimmbesserung "Individualpsychose" (1922, S. V; 1928, S. V; 1972, S. 25; korrigiert).

Damit genug der abstrusen Druckfehlerteufeleien! Und: sit venia verbo; denn den Autor, der unter dem Zwang des Buchstaben-Zählens ächzt, entschädigen sie mit einer schwarz-humorigen Genugtuung.

 

Die Position der Varianten in der "frühen" Neurosenlehre Adlers

Ich will versuchen, die Redaktionsarbeit, die Adler seinen Ausführungen "Über den nervösen Charakter" angedeihen ließ, im Zusammenhang seiner neurosenpsychologischen Grundanschauungen zu betrachten. Diese Einordnung hat Folgen für mögliche Kontroversen über die Position im Konzert der psychotherapeutischen, tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Richtungen.

 

Adlers viergliedrige Neurosenlehre

Zuvor erinnere ich an die Neurosenlehre, die Adler in seinem Hauptwerk "Über den nervösen Charakter" programmatisch entworfen hat und die im zweiten Patientenbericht klar hervortritt (s. o. S. *f.). Sie hat eine viergliedrige Struktur:

1.

die Belastung in der Kindheit,

2.

das fiktive Ziel "männlicher" Große und Macht (auch: "Aggressionstrieb", "männlicher Protest", "Wille zur Macht", "fiktives, abstraktes Persönlichkeitsideal"),

3.

die Konkretisierung dieses Zieles durch ein persönlich und gesellschaftlich positiv bewertetes Ersatzziel (Umwandlung des Aggressionstriebs, Triebverschränkung; Gegenfiktion, Wille zum Schein, sekundäre Leitlinien),

4.

die Janusköpfigkeit des Symptoms, das rückwärts den Schrecken der kindlichen Unsicherheit festhält und vorwärts die Notwendigkeit der Zielfiktion und Sicherheitsfixierung einschärft.

Diese viergliedrige Grundstruktur hat Adler zeitlebens beibehalten. Sie wird im wesentlichen auch noch in dem berühmten Kapitel "Was ist eigentlich eine Neurose?" aus 'Der Sinn des Lebens' (1933) vertreten.Die Einführung des Gemeinschaftsgefühls fügt dieser viergliedrigen Grundgestalt kein neues Strukturelement hinzu, sondern lediglich ein Wert und Richtung gebendes Prinzip. Das Gemeinschaftsgefühl bestimmt 1. das Ausmaß des kindlichen Mangels oder den Schweregrad der Neurose, 2. den Realitätsgehalt und zukunftsorientierten humanitären Wert des Strebens, 3. den Charakter der individuellen und gesellschaftlichen Lebensform (in der mit dem Pseudogemeinschaftsgefühl auch Terror getrieben werden kann) und 4. ist der Gemeinschaftsbezug des Symptoms offenkundig; d. h.: auch im Symptom ist das Gemeinschaftsgefühl konstitutiv.

 

Adler hat mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls und mit der Hervorhebung der "zögernden Attitüde" die Struktur seiner viergliedrigen Neurosenlehre nicht verändert. Er hat allerdings die einzelnen Glieder verschieden stark betont. Und aus dieser unterschiedlichen Gewichtung der Gesichtspunkte erklären sich manche Meinungsverschiedenheiten darüber, was in der Individualpsychologie orthodox oder dissident ist.

 

Divergente Auffassungen über die Individualpsychologie

Ich erinnere an den Diskussionsbeitrag von Rainer Schmidt "Über einige neuer Entwicklungen in der deutschsprachigen Individualpsychologie" auf dem Kongreß von Montreal 1985 (Schmidt 1985, 1986; Huttanus 1986 und die daran sich anschließenden Stellungnahmen (IPNL 1985). Ein großer Teil dieser Kontroversen dürfte aus der unterschiedlichen Gewichtung eines der Strukturelemente der Neurosenlehre Adlers resultieren.

Es geht um die zumindest in den deutschsprachigen Ländern längst entschiedene Frage, ob die Individualpsychologie eine Tiefenpsychologie sei und welche Rolle Regression, Übertragung und Gegenübertragung in unseren Therapien spielen. Der entscheidende Faktor ist hier, wie intensiv wir in den Therapien auf das erste Element der Neurosenlehre, auf die kindliche Belastung, eingehen. Wie ich bei der Besprechung der Überarbeitungen des 'Nervösen Charakters' gezeigt habe, bereitet Adler selbst den Weg zu einer Vernachlässigung der realen Lebensumstände der Patienten.

 

Adler legt das Augenmerk auf die subjektive Wertung der Lebenslage durch den Patienten und auf dessen Sicherungstendenzen. Dabei tritt zunehmend in den Hintergrund, was es für den Patienten so unerläßlich macht, sich zu sichern. Freud hatte zunächst die Traumatheorie aufgestellt, sie jedoch zugunsten der Theorie von der Libidofixierung und Triebdynamik aufgegeben. Von beiden hat sich Adler abgewandt. Aber auch für die moderne Psychoanalyse ist die Trieblehre nicht mehr conditio sine qua non. Viele Individualpsychologen scheinen jedoch eisern an dem Glauben festzuhalten, Psychoanalyse und Libidotheorie seien unzertrennlich. Wenn Du Dein Feindbild behalten willst, sieh zu, daß sich der Feind nicht ändert.

 

Adler schaute anfangs vor allem auf die Reaktion des verunsicherten, psychisch und organisch belasteten Kindes, um dessen Kompensations- und Sicherungstendenzen zu studieren. Diese sind aber nicht denkbar ohne die vorausgehende Belastung. Das Studium der kindlichen Entwicklung, insbesondere auch des Selbstwertgefühls ist seit den 70er Jahren bekanntlich ein zentrales Studienfeld in der Psychoanalyse. Es hätte auch Adlers oder der Individualpsychologen Terrain sein können. Adler hat es nicht mehr betreten, sondern eher davon Abstand genommen, ohne den Grundgedanken je aufzugeben. Doch unverzichtbar bleibt für die Psychotherapie: Wenn nicht mehr verstanden wird, in welcher Mangelsituation sich das Kind befand, kann auch seine neurotische Fehlhaltung nicht mehr psychologisch verstanden werden.

Warum hält sich der Neurotiker vom Leben fern, warum sucht er sein Prestige, ohne seinen Beitrag zum Ganzen zu leisten? Aus Angst, sein Image zu verlieren, aus Feigheit, aus Egoismus, aus Selbstliebe usw. Das sind die Antworten des Adler der späteren Jahre, auch in den Neuauflagen des 'Nervösen Charakters'. Aber Adler hatte ja den "nervösen Charakter" psychologisch verstehen wollen; doch nun führt er zunehmend zur Erklärung der neurotischen Charaktereigenschaften wieder Charaktereigenschaften an: Warum ist der Neurotiker herrschsüchtig? Weil er egoistisch ist. Das ist ein Nebengleis der popularisierenden Verkürzungen, zu denen Adler sich bei seinen öffenttichen Veranstaltungen, deren Niederschriften wir in seinen Aufsätzen lesen, genötigt sah. Aber: Wenn die charakterlichen Fehlhaltungen nur als Erziehungsmängel verstanden würden, dann wäre Adlers Individualpsychologie in der Tat keine Tiefenpsychologie, sondern Pädagogik oder Lernpsychologie.

 

Adler ist aber nie davon abgewichen, daß der Patient in seinen eigenen Stricken gefangen ist, daß er seine Motive nicht weiß oder nicht versteht.

Gehen wir zur Veranschaulichung auf das Beispiel des "impotenten Verführers" zurück. In seiner Psychodynamik der Neurose ist die viergliedrige Struktur erkennbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verborgen -
Die primäre Leitfiktion:

Die rachsüchtigen Überlegenheitsziele:

Herrschsucht
Eifersucht
männliche Überlegenheit
Sicherheit

 

 

Offen -
die sekundären Leitlinien
präsentierbare Ersatzziele
Verhältnisse mit verheirateten Frauen
Vorsicht
Sparsamkeit

 

Dazwischen:
Die Symptome
als Kompromiß:
Impotenz
Zwangsgedanken

 

 

 

 

Die kindliche Not:
Magen-Darm-Störungen
brutaler Vater
Kryptorchismus
sexuellerMißbrauch



Schwäche
Sexuelle Minderwertigkeitsgefühle

 

 

 

 

Der kindliche Notzustand ist deutlich aus den Umständen erschließbar; auch wenn er von Adler zunehmend verschleiert wird. Klar sind aber auch die auf Rache und Überlegenheit ausgerichteten ursprünglichen Ziele. Die aber werden verborgen vor anderen und auch vor dem eigenen Wissen. Dazwischen treten Ersatzziele, die sekundären Leitlinien, d. h. die Charaktereigenschaften und die offenkundigen sozialen Ziele. Die Symptome nehmen eine Mittelstellung ein. Sie tragen das Mal der kindlichen Traumatisierung in sich, bilden aber auch die Kompensationsrichtung ab. Sie stacheln an, das ideale Ziel der Unverletzbarkeit und Überlegenheit zu verfolgen, aber zugleich entlasten sie, indem sie als unerklärliche Hindernisse bremsen und die Richtung auf das gesellschaftlich Vorzeigbare lenken. "Der Kunstgriff der Neurose aber ist es dann, die für den fiktiven Zweck der Persönlichkeitserhöhung oft ungeeigneten, feindseligen, aggressiven Züge zu verbergen, zu verändern, den gleichen Zweck vielmehr noch intensiver auf Umwegen, oft durch entgegengesetzte Charakterstimmungen und durch neurotische Symptome zu erreichen. Man überzeugt sich dann leicht, daß die übertriebene Freigebigkeit solcher Patienten dem gleichen Ziel des 'Willens zur Macht' gehorcht, dem sich der Kranke auch durch Steigerung seines Aggressionstriebs, seiner Begehrlichkeit, seiner Sparsamkeit zu nähern versucht" (1912, S. 64; 1972, S. 107).

So versteht Adler die Neurose insgesamt als eine Manifestation des Zurückschreckens und des Vorantreibens. Insofern sich in den Symptomen Elemente des vergangenen Traumas und der aggressiven Überwindung spiegeln, sind sie zugleich Symbole der Angst und der Hoffnung. Ohne Rekurs auf die Triebdynamik und Instanzenlehre Freuds kann diese Konstellation in psychoanalytischem Sinne auch als Kompromiß oder als unbewußter Konflikt bezeichnet werden. Denn: Das ganze Geschehen ist dem Patienten unbewußt oder unverstanden. Die Mechanismen der "Verdrängung" oder des Unbewußt-Machens gilt es zu verstehen, nachzuerleben und vom Ursprung her aufzulösen.

Analyse heißt "lösen" aus dem Griechischen "lyein", das heißt "einen Knoten lösen", und von daher auch "den Anker lichten, in See stechen, sich auf den Weg machen". Die naturwissenschaftliche Bedeutung des Wortes Analyse, "in die Bestandteile zerlegen", leitet sich erst aus dem spezifischen Gebrauch des Wortes in der Logik ab, wo Probleme dialektisch in Syllogismen zerlegt wurden. In der ersten Auflage des 'Nervösen Charakters' benützt Adler noch den Begriff "Analyse". Später hat er ihn durch die Wendung "individualpsychologische Methode" ersetzt (so auch Ansbacher 1985).

 

Primäre und sekundäre Ziele

Auch an die stärkere Betonung der zögernden Attitüde in den Neuauflagen muß sich eine kritische Orientierung anknüpfen. Charakteristisch für diese Intention Adlers ist die folgende Einfügung: "Die Enthebung von hervorstehenden Forderungen des Lebens, die Hinausschiebung der Lösung einer Lebensfrage oder die Gewinnung mildernder Bedingungen wird sekundäres, ideales Ziel" (1919, S. 21; 1972, S. 54; Hervorhebung von Adler). Das Zögern und die Suche nach Erleichterung ist also "sekundäres Ziel". Dies ist genau das, was man den sekundären Krankheitsgewinn nennt. In manchen Diskussionen, in denen man die Individualpsychologie herabsetzen möchte, heißt es, wir kümmerten uns nur oder vorwiegend um diesen sekundären Krankheitsgewinn. Doch jeder Individualpsychologe könnte wissen, daß sich Adler ausdrücklich gegen diese Festlegung gewehrt hat (1931; 1982, S. 154). Er hat immer wieder deutlich betont, daß die Ausweichtendenzen des Patienten, die sozial schädlichen und ausbeuterischen Haltungen sekundär sind. Das primäre Ziel ist, die Unsicherheit des Lebens, die Verkürzung und Hintansetzung, die konstitutionelle und soziale Minderwertigkeit - ob sie nun tatsächlich gegeben ist oder nur empfunden - wettzumachen, d. h. eine Benachteiligung zu kompensieren. Das war die Position in den Frühschriften. Gleichzeitig mit der Betonung der zögernden Attitüde und Ausschaltungstendenz legt Adler nun seit 1919 immer stärkeres Gewicht auf den subjektiven Faktor. Wo er zunächst von konstitutioneller Minderwertigkeit (der körperlichen und psychischen Organe) gesprochen hatte, legt er jetzt regelmäßig Wert darauf, daß es sich um ein Minderwertigkeitsgefühl handle. Aber ist damit denn eine Abschwächung des Mangels oder des Leidens verbunden, daß sie "nur" subjektiv empfunden sind? In Adlers Spätschrift 'Sinn des Lebens' findet sich die Formulierung, der Neurotiker fürchte, "als etwas Wertloses dazustehen; es könnte sich etwa das düstere Geheimnis entpuppen, daß er nichts wert sei" (1933; 1974, S. 105). Dieses drückende Gefühl gilt es ernst zu nehmen, auch wenn es unbewußt ist und sich hinter Grandiosität versteckt. Haben wir uns diesem Gedanken und dem damit verbundenen Gefühl denn einmal gestellt, wertlos zu sein? Können wir mitfühlen, wie es einem Menschen gehen mag, der sich wertlos fühlt? Aus diesem radikalen Ansatz der Neurosenproblematik ergibt sich eine Therapie, die an die Wurzeln geht, tief ins Innerste der unbewußten Verletzungen sowie der geheimen Wege und Ziele, mit den düsteren Geheimnissen fertig zu werden - und dabei unentwegt zu scheitern.

* * *

In all diesen Fragen brauchen wir einen zweifachen Weg zur Lösung. Der eine ist die fundierte historische Analyse der Text- und Theoriegeschichte der individualpsychologischen Therapie. Der andere ist unsere eigene aktuelle Erfahrung, die auch den Erfahrungsschatz und die Forschungsergebnisse der anderen Psychotherapierichtungen nützt. Wir können uns bei der Erforschung der Geheimnisse der Seele nicht auf Autoritäten berufen. So ist es an der Zeit, Adler aus seinem Amt des verehrten oder befehdeten Gründervaters zu entlassen und statt dessen historisch kritisch und in der Sache leidenschaftlich seinen Denkweg zu erforschen und seinen bleibenden Beitrag zu würdigen.

Ein hierzu unerläßliches Handwerkszeug wäre eine historisch kritische Ausgabe seiner Frühschriften.

 

Literatur

Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individuapsychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: Verlag von J. F. Bergmann, 1912

- : zweite verbesserte Auflage, 1919

- : dritte vermehrte Auflage, 1922

- : vierte Auflage, 1928

- : mit einer Einführung von Wolfgang Metzger [Neuausgabe der vierten Auflage von 1928, hrsg. von W. Metzger]. Fankfurt / M.: Fischer, 1972

- : Trick und Neurose (1931). In: Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2, hrsg. von Heinz L. Ansbacher und Robert F. Antoch. Frankfurt: Fischer, 1982

- : Der Sinn des Lebens (1933). Neudruck: Frankfurt / M.: Fischer, 1974

Ansbacher, Heinz L.: Briefliche Stellungnahme zu Schmidt 1985, in IPNL 1985

Bruder-Bezzel, Almuth: Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu Wiens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983

Handlbauer, Bernhard: Die Adler-Freud-Kontroverse. Frankfurt / M.: Fischer, 1990

Huttanus, Alwin: Nicht krampfhaft am Gewohnten festhalten! Zeitschrift für Individualpsychologie 11, 1986, 55-57

Individual Psychologie News Letter 33, 1985, Nr. 2: Stellungnahmen zu Schmidt 1985 von Normann N. Silverman, Chicago, Robert L. Powers, Chicago, und Heinz. L. Ansbacher, Burlington, dokumentiert von Horst Gröner

Leisegang, Hans: Denkformen. Berlin: de Gruiter, 1928

Meier, H. G., Denkform, in Historisches Wörterbuch der Philsophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, Sp. 104 - 107

Schmidt, Rainer: Neuere Entwicklungen der Individualpsychologie im deutschsprachigen Raum, Zeitschrift für Individualpsychologie 10, 1985, 226-236

- : Einige Nachbemerkungen Zeitschrift für Individualpsychologie 6, 1986, 124-128

 

Dr. Karl Heinz Witte
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