Wo nisten die Adler? Die Individualpsychologie im Revier der analytischen Psychotherapien

Karl Heinz Witte

"Wo nisten die Adler?" Die Titelfrage gibt Anstoß zu ernsten und komischen Assoziationen. Zweifellos haben die meisten von Ihnen die naheliegenden Wortspiele auch schon kräftig ausprobiert. Vielleicht haben Sie auch die sprechenden Namen aller drei Urväter der Tiefenpsychologie vergleichend einbezogen: Freud, Jung, Adler? Das gibt doch was her für Assoziationen und Deutungen, oder? Vorbewusst sind Sie durch diese Hinweise schon mitten drin im analytischen Prozess, und so sind Sie für meine Ausführungen schon bestens angewärmt, und ich kann mir die Einleitung sparen.

Praxis und Theorie

Ich will zuerst ein Alltagsphänomen besprechen, mit dem alle wissenschaftlichen Schulen, Glaubensrichtungen und sogar die Fußballstrategen zu ringen haben: dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis oder vielleicht besser dem Widerstand der Praxis gegen die Theorie. Die Theorie gilt als Sache der Großkopfeten oder Chefideologen. Ihr bekundet man oberflächlich Respekt, je nach Temperament auch vorsichtigen Zweifel oder aufmüpfigen Widerspruch. In unserem Privatleben und in unserer individuellen Praxis kennen wir eine trotzige Gleichgültigkeit gegen die offizielle, herrschende Theorie. Dieses heimliche Abweichlertum tarnt sich oft als Unfähigkeit: "Ich bin einfach nicht so gut in der Theorie." Dahinter verbirgt sich aber nicht selten doch eine Überlegenheitsgeste: "Die Theorie finde ich auch nicht so wichtig. Es gibt so viele Theorien. Die XY-Psychologie (der Nachbarfamilie) ist da sowieso schon viel weiter als wir Z-ianer."

Solche Haltungen gibt es natürlich bei Kandidaten und Absolventen der Alfred-Adler-Institute genauso häufig wie anderswo, auch wenn wir vielleicht glauben, jeweils die anderen seien linientreuer. Auf die Frage, warum gewöhnlich diese Spannung zwischen der Theorie und der Praxis herrscht, kann man nun zahlreiche verschiedene Antworten geben, z. B. die Praktiker sind immer ein bisschen beschränkt und die Theoretiker zu abgehoben.

In den Schul- und Meinungskämpfen werden natürlich wichtigere Gründe genannt: Die eine Theorie ist weltfremd, weil sie den Ödipuskomplex als universellen Zauberstab anpreist, die andere ist beobachtungsfern, weil sie den empirischen Säugling im Patienten übersieht, und die dritte ist einfach zu altmodisch oder zu oberflächlich, was man mit schlauen Thesen beweisen kann.

Wenn ich Alfred Adler dazu Stellung nehmen ließe, würde er sagen: "Schön und gut, meine Damen und Herren, aber vergessen Sie mir die Ziele nicht." Zahlreiche Augen drehen sich zum Himmel, wie immer wenn einer schon wieder seine alte Platte abspielen muss: "Na, was wollen Sie denn hier wieder mit Ihren Zielen, Herr Adler, wo es doch darum geht, ob mir die Theorie in der Praxis hilft?" Antwort: "Glauben Sie denn wirklich, dass wir die Theorien nach ihrem sachlichen Wert prüfen, akzeptieren oder verbessern?" - "Ja, was denn sonst?" - "Nein, die Sache kommt frühestens an zweiter Stelle. Zunächst einmal geht es darum, ob eine Theorie unseren persönlichen Vorlieben und Interessen dient. Sie werden doch keine Meinung annehmen, die Sie dumm oder neidisch oder minderwertig aussehen lässt." - "Herr Adler, müssen Sie schon wieder das Geltungsstreben in den Vordergrund rücken? Für die Patienten und die Kinder ist jedenfalls eine Theorie wertvoller, die zu meinem Herzen spricht und die auch von namhaften Gelehrten vertreten wird." - "Na sehen Sie; dann haben Sie ja doch persönlich was von Ihrer Theorie!" - Schicken wir den Besserwisser erstmal in Urlaub: "Herr Adler, wir danken für das Gespräch."

Alfred Adler hat immer etwas Nörglerisches an sich. Heißt nicht eine Fernsehserie: "Das Ekel Alfred"? – In dieser ironischen Charakterisierung verbirgt sich tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Adlers Individualpsychologie ist nämlich analytisch, d. h. sie hat keine positive Heils- oder Heilungslehre. Wo sie Antworten versucht, stellt sie diese zugleich wieder in Frage.

Wenn Adlerianer gegen die psychoanalytische wie gegen die individualpsychologische Theorie skeptisch sind und die Theorie lieber an der Praxis messen, haben sie dafür gewissermaßen einen theoretischen Grund. Wenn man über Adlers Stellungnahme zur Theorie spricht, darf ein Satz gewiss nicht fehlen: "Alles kann auch anders sein. (Adler, 1933 b/1973 a, 22)" Dieser Satz soll nicht einfach einen allgemeinen theoretischen Relativismus verkünden, sondern Adler führt ihn als seinen erkenntniskritischen Grundsatz im Rahmen der psychologischen Menschenkenntnis an. Hier gilt: "Alles kann auch anders sein." Damit bezieht er Stellung in der Frage nach dem wissenschaftlichen Konzept, welches die Psychotherapie fundiert: "Das Einmalige des Individuums lässt sich nicht in eine kurze Formel fassen, und allgemeine Regeln, wie sie auch die von mir geschaffene Individualpsychologie aufstellt, sollen nicht mehr sein als Hilfsmittel, um vorläufig ein Gesichtsfeld zu beleuchten, auf dem das einzelne Individuum gefunden - oder vermisst werden kann." (ebd.) Sein Untersuchungsprinzip war, dass in jeder Geste oder Lebenserscheinung des Individuums seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das individuelle Bewegungsgesetz des Individuums enthalten sei, wie die genetische Strukturinformation eines Individuums in jeder Zelle seines Körpers. Adler sagt: Es gehe ihm letztlich um die Erfassung des individuell Einmaligen, also nicht um ein allgemein gültiges, gesetzmäßiges Erklären der psychischen Störungen. Ich kann das Individuum mit einer Diagnose oder einer psychodynamischen Charakterisierung nicht als das individuell Einmalige erfassen. Das will ich allerdings auch gar nicht. Vielmehr werden Diagnosen und entwicklungspsychologische oder psychodynamische Hypothesen gebildet, um das Individuum einer Gruppe von Störungen zuzuordnen, über die ich aus den Lehrbüchern etwas Allgemeines wissen sollte. Dieses allgemeine Wissen hilft mir dann, das passende Behandlungskonzept auf den individuellen Fall anzuwenden. So glauben wir zu wissen, dass ein Patient mit einer frühen Mangelerfahrung anders behandelt werden muss als ein Borderline-Patient, und dieser wieder anders als eine höher strukturierte Patientin mit einer hysterischen Konversionssymptomatik. Um das Individuelle erfassen zu können, braucht man allgemeine Regeln als Zuordnungsgrößen, so auch die Individualpsychologie. Adler sagt: "... um vorläufig ein Blickfeld zu beleuchten". Das Individuelle als das individuell Verschiedene erscheint aber gerade nicht in der Zuordnung zum Allgemeinen, vielmehr kann das gleiche Symptom bei zwei Individuen etwas ganz Verschiedenes bedeuten, und der eine kann seine strukturelle Ich-Störung ganz anders einsetzen als die andere. Adlers noch immer unzureichend beantwortete Frage an die Psychologie lautet: Welche Methoden braucht eine Wissenschaft, die das Einmalige des Individuellen und nicht nur das Spezifische einer Klasse erfassen will?

Freud und Adler

Die Differenz zwischen Adler und Freud anlässlich ihrer Trennung 1911 besteht in der Frage, welche Gültigkeit die Erkenntnisse der Psychoanalyse haben. An der oben zitierten Stelle beschränkt Adler ihre Aufgabe darauf "vorläufig ein Gesichtsfeld zu beleuchten". Diese Metapher aus der Optik, "ein Gesichtsfeld beleuchten", repräsentiert als wissenschaftstheoretisches Prinzip den Perspektivismus, das besonders von Nietzsche entwickelt wurde (Ritter u. Gründer, 1980 -, Bd. 7, 363 - 377): Es hängt von meinem Standpunkt und meiner Blickrichtung ab, was ich erkennen kann. Den Menschen kann man zweifellos unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Unter manchen kann man objektive Erkenntnisse gewinnen, z. B. über die elektrophysiologischen Prozesse im Gehirn oder auch über die Entwicklung und die Funktion der Affekte. Unter diesem Blickwinkel ist der Mensch ein Objekt der Naturwissenschaft. Wie aber kann das individuelle Erleben eines Menschen erfasst werden? Adler war der Ansicht, dass es für das Verstehen des individuellen Erlebens nur einen ebenfalls individuellen Zugang gebe, und dieser bringe zwar gültige, aber keine allgemeingültigen, objektiven Erkenntnisse.

Freud (1941, 103) apostrophiert in seiner Auseinandersetzung mit Adler dessen Ansicht vom "wissenschaftlichen Relativismus" als eine "bekannte reaktionäre, der Wissenschaft feindliche Strömung der Gegenwart". Man kann ihm nicht verdenken, dass er den Impuls der neuen Wissenschaftstheorien des 20. Jahrhunderts, die in Nietzsches Perspektivismus einen Vorläufer haben, noch nicht wahrnehmen konnte. Freud war ein treuer Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Das Ziel seiner Forschung war, neue objektive Erkenntnisse zu gewinnen. Für diese Zielsetzung gilt Nietzsches Diktum: "Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft" (Nietzsche, 1966, III, 814). Das heißt: Die anzuwendende Methode richtet sich hier nicht mehr nach dem jeweiligen Gegenstand, sondern der Forscher wendet auf jeden Gegenstand die Methode an, die als wissenschaftlich gilt, und Fragestellungen, die mit dieser Methode nicht sicher beantwortet werden können, gelten als sinnlos oder metaphysisch. Das ist auch der Grund, warum Psychoanalytiker konservativerer Gesinnung meinten, echte Psychoanalyse sei nur gegeben, wenn die Standardtechnik Menschen jeder Art und Befindlichkeit  auferlegt wird, und wenn das nicht geht, sei der Mensch nicht analysierbar oder es sei keine echte Psychoanalyse.

Adler war der Meinung, dass es zur Erfassung des Individuums einer spezifischen Methode bedarf, eben einer individualpsychologischen Methode, die freilich keine Gleichheit aber doch eine Analogie mit dem künstlerischen Bereich aufweist. Über diese Strukturverwandtschaft hat in neuerer Zeit neben vielen anderen kein geringerer als W. R Bion nachgedacht. Freud (1941, 104)hingegen fordert in seiner Polemik gegen Adler und Jung, "den Faktor der persönlichen künstlerischen Willkür dort möglichst einzuschränken, wo er noch eine übergroße Rolle spielt". Aus diesem Grundgegensatz in der Auffassung von Wissenschaft entspringen die abweichenden Konzepte der Adlerschen Individualpsychologie. Die Unvereinbarkeit der Positionen Freuds und Adlers liegt demnach erst sekundär in divergierenden Meinungen über bestimmte theoretische Inhalte, z. B. über die Rolle der Sexualität bzw. des Willens zur Macht oder über die Bedeutung des Ichs bzw. des Unbewussten. Gemeinsam war Freud und Adler ein hemmungsloser persönlicher Ehrgeiz, ein intolerantes Dominanzstreben und ein dogmatisierender Argwohn gegen Verwässerungen und gegen Abweichungen von den Lehren ihres jeweiligen Erfinders. Dass diese Gemeinsamkeit die Rivalen auseinander treiben musste, ist leicht einzusehen. Aber persönliche Unzulänglichkeiten können das Zerbrechen der ursprünglichen Psychoanalyse in die drei konkurrierenden Tiefenpsychologien gemäß Freud, Adler und Jung nicht erklären.

Unvereinbar waren vielmehr zunächst und zutiefst die Konzeption der Psychoanalyse als Wissenschaft und die Vorstellungen über die Strategie und die Taktik der internationalen Vereinigung, welche der "Pflege und Förderung der von Freud begründeten psychoanalytischen Wissenschaft" dienen sollte (Freud, 1941, 89). Auf dem (zweiten) internationalen Kongress 1910 in Nürnberg wurde in einem Überraschungscoup C. G. Jung an die Spitze der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung gesetzt, als "Führer", der, wie Freud schreibt, "wie selbstverständlich mein Ersatz werden sollte". "Ein Oberhaupt, meinte ich aber, müsse es geben. Ich wusste zu genau, welche Irrtümer auf jeden lauerten, der die Beschäftigung mit der Analyse unternahm, und hoffte, man könnte viele derselben ersparen, wenn man eine Autorität aufrichtete, die zur Unterweisung und Abmahnung bereit sei" (ebd. 85). Diese Absicht veröffentlichte Freud selbst vier Jahre nach dieser ominösen Gründung der IPV, und er versuchte sie bekanntlich nach Jungs Ausscheiden in seinem berüchtigten "Geheimen Komitee" weiter zu verwirklichen. Aber schon anlässlich der Einsetzung Jungs 1910 berichtet Freud selbst: "Adler sprach in leidenschaftlicher Erregung die Befürchtung aus, dass eine ‚Zensur und Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit' beabsichtigt sei" (ebd. 86). Heute wird niemand mehr bestreiten, was Adler damals argwöhnte. Den Protest gegen die Einengung der wissenschaftlichen Forschung machte Adler auch zum Hauptthema seiner öffentlichen Erklärung über die Trennung von Freud (Adler, 1912 a/1997, 25f): "Die Anregung zur Gründung des »Vereins für freie psychoanalytische Forschung« ging im Juni 1911 von einigen Mitgliedern der unter der Leitung Professor Sigmund Freuds stehenden »Wiener psychoanalytischen Vereinigung« aus, die zu bemerken glaubten, dass man die Mitglieder des alten Vereins auf den ganzen Umfang der Lehrsätze und Theorien Freuds, wissenschaftlich festlegen wolle. Ein solcher Vorgang schien ihnen nicht nur mit den allgemeinen Grundbedingungen wissenschaftlichen Forschens schwer vereinbar, sondern bei einer so jungen Wissenschaft, wie es die Psychoanalyse ist, von besonderer Gefahr zu sein. Es hieß nach ihrer Meinung auch den Wert des bisher Erreichten in Frage stellen, wenn man sich voreilig auf gewisse Formeln verpflichten und die Möglichkeit aufgeben wollte, neue Lösungsversuche zu unternehmen. So ließ ihre Überzeugung von der entscheidenden Bedeutung psychoanalytischer Arbeitsweise und Problemstellung es ihnen als eine wissenschaftliche Pflicht erscheinen, einer nach allen Seiten hin unabhängigen psychoanalytischen Forschung eine Stätte zu sichern."

Individualpsychologie heute

Meine Damen und Herren, ich werde die Positionen Adlers, die inhaltlich den Bruch mit Freud notwendig machten, nicht weiter historisch entfalten. Aber den Rückblick auf diesen Ursprungsbereich des Dissenses wollte ich an den Anfang meiner Ausführungen über die Stellung der Individualpsychologie im Feld der analytischen Psychotherapien stellen. Als Ergebnis möchte ich festhalten: Durch die Abspaltung der Adlerschen und später der Jungschen Richtung ist der psychoanalytischen Bewegung und psychotherapeutischen Wissenschaft zwar viel Schaden zugefügt worden; aber durch sie ist auch ein Gewinn erzielt worden: Es wurde nämlich auch "einer ... unabhängigen psychoanalytischen Forschung eine Stätte" (oder besser mehrere Stätten) bereitet. Was Freud mit der Gründung der internationalen psychoanalytischen Vereinigung und später mit dem geheimen Komitee verhindern wollte, ist eingetreten. Es gibt gegen Freuds Willen eine psychoanalytische Forschung außerhalb der Freudschen Orthodoxie. Zu dieser Unabhängigkeit waren auch die Adlerianer verdammt. Die Vielfältigkeit der modernen Psychoanalyse können wir demnach wohl als der späten Gewinn der frühen Dissidenz betrachten.

Die Kolleginnen und Kollegen, die seit den 70er Jahren in München die Individualpsychologie kennen gelernt und auszuarbeiten geholfen haben, zu denen ich mich auch zählen darf, standen nie in einer adlerianischen Tradition. Unsere Gewährsleute waren mehr noch als Adler: Freud und Jung, Erich Fromm und Karen Horney, Nietzsche, Heidegger, Adorno, Marcuse, Habermas - und fast noch wichtiger als die Altehrwürdigen waren die neuen psychoanalytischen Größen: Kohut, Kernberg, Winnicott und Wurmser, um nur ein paar Namen zu nennen. Den Richtungskampf der psychoanalytischen Schulen haben wir von außen betrachtet - doch zweifellos parteilich. Aus diesem individualpsychologischen Blickwinkel wirken manche Argumentationsfronten in der zeitgenössischen Psychoanalyse, als ob es immer noch darum ginge, Positionen innerhalb der Psychoanalyse Anerkennung zu verschaffen, die Alfred Adler schon vertrat. Ich huldige damit keineswegs dem billigen Klischee: Das hat Adler doch auch schon gesagt. Es kommt nämlich bei den zeitgenössischen Forschungsrichtungen nicht mehr darauf an, was Freud oder Adler gesagt oder gemeint haben, sondern darauf, ob sich ein modernes und humanes Wissenschafts- und Behandlungsparadigma in der Psychoanalyse durchsetzt. Dies hat zweifellos Freud begründet, und Adler und Jung wollten es gegen Freuds Dogmatismus für die Psychotherapie weiterentwickeln, und sie und ihre Anhänger sind selber auch Dogmatiker geworden.

Soweit zunächst mal, wie die Adlerianer geworden sind. Nun soll ich darstellen, wie sie sind, d. h. was ihre Praxis und ihre Theorie kennzeichnet. Als einen ersten Hinweis kann ich den anfänglichen Trick nochmals zu Hilfe nehmen; Ich benütze den Namen Adlers als Metapher. Adler bilden keine Herden oder besser, wie es in der Vogelwelt heißt,  keine Schar und keinen Schwarm. So lassen sich auch zeitgenössische Adlerianer schwer unter den gemeinsamen Nenner einer Schule bringen. Wie Adler formuliert hat, sollen die spezifisch individualpsychologischen Aspekte "ein Gesichtsfeld beleuchten", auf dem das Individuum erscheinen kann. So wäre denn das Eigentümliche der individualpsychologischen Therapie, was sich jeweils individuell einmalig und augenblickshaft zwischen dir, der Therapeutin, und mir, dem Patienten, ereignet. In der Betonung des je Einmalig-Existentiellen in der Situation des Augenblicks ist für den Individualpsychologen der Vorrang der "Praxis" vor der "Theorie" begründet.

Jeder praktizierende Psychoanalytiker jeder Schule wird auch von seiner Praxis sagen, dass das individuell Ereignishafte im Augenblick der Therapiesitzung das wesentlichste Moment seines Berufes ist. Allerdings ist davon in der psychoanalytischen Fachliteratur nur selten die Rede. Adler wollte dies Einmalige zum Fundament seiner Individualpsychologie machen (Adler, 1926 k/1982 a).

Für den Adlerianer ist es eine erfreuliche Entwicklung, wenn ähnliche Ideen in der modernen Psychoanalyse entwickelt und weitergeführt werden. Der als Entwicklungspsychologe der frühen Kindheit berühmt gewordene Daniel Stern (1998) z. B. sieht in dem "Augenblick der Begegnung (moment of meeting)" den eigentlichen (nicht-deutungsgebundenen) Wirkfaktor der Therapie. Und W. R Bion (1987/1994, 15) sagt: "Ich finde, man kann zu lange in die [psychoanalytische] Ausbildung und in Seminare gehen. Erst nach dem Abschluss hat man die Chance, ein Analytiker zu werden. Der Analytiker, der du wirst, bist du selbst und du allein; du musst vor der Einmaligkeit deiner eigenen Persönlichkeit Achtung haben -  sie brauchst und gebrauchst du, nicht all diese Deutungen".

Individualpsychologie – Teil der neueren Strömungen in der Psychoanalyse

Der Horizont, aus dem sich das individualpsychologische Gesichtsfeld abhebt, ist allgemein gesprochen derjenige der neueren Strömungen in der Psychoanalyse. Wenn ich diese kurz charakterisieren könnte, dann hätten wir einen groben Umriss, dessen, wie die meisten deutschsprachigen individualpsychologischen Psychoanalytiker ihre Therapie verstehen. Wie ist diese Strömung innerhalb der zeitgenössischen Psychoanalyse inhaltlich zu kennzeichnen, ohne sie auf eine der Bewegungen einzuschränken, aus deren Zusammenspiel sich diese moderne (oder postmoderne) Strömung ergibt: Sie ist selbstpsychologisch, entwicklungsfundiert, intersubjektiv, interaktionistisch, interpersonell, relational.

Es kennzeichnet den Scharfsinn eines Kernberg (übrigens auch ein sprechender Name: Er kommt immer auf den Kern und legt uns einen Berg von Worten vor), des Wortführers der Mainstream-Psychoanalyse, dass er auch imstande ist, diejenige Entwicklungstendenz präzise zu definieren, der er skeptisch gegenübersteht. Ich entnehme diese Charakterisierung einem neueren Aufsatz Kernbergs (1999), in dem er darlegt, das spezifisch Psychoanalytische liege in drei technischen Kriterien, nämlich Neutralität des Analytikers, Übertragungsanalyse und Vorrang der Deutung. Diese Kriterien sollen nach Kernberg gelten, gleich ob es sich um eigentliche Psychoanalyse, um psychoanalytische Psychotherapie oder um psychoanalytisches stützendes Verfahren handelt. Die neuen Strömungen entsprechen diesen Kriterien natürlich nicht. Ich übersetze die wissenschaftsprachlichen Formulierungen des Kernberg-Zitats in deutsche Alltagssprache, damit sie für Zuhörer (und nicht nur für Leser) verständlich sind.[1] Außerdem erlaube ich mir ein "Wir Individualpsychologen" einzusetzen, wo Kernberg allgemein von Psychoanalytikern dieser Richtung spricht.

1. Psychoanalytiker dieser Strömung, und das heißt auch wir Individualpsychologen bewegen uns weg von der technischen Neutralität, d. h. dem berühmten Schweigen, dem Nicht-Antworten, dem emotionalen Unbeteiligtsein, vielmehr schwingen wir emotional mit und lassen uns subjektiv ein in die subjektive Erfahrung des Patienten.

Dazu eine Anmerkung: Hier gilt, wie oben bemerkt, dass wir nicht die Methode vor den Menschen setzen. Also nicht unbedingt auf die Couch mit all den psychoanalytischen Regeln, auch nicht in jedem Fall technische Neutralität, Übertragungsanalyse und Vorrang der Deutung. Jedoch andererseits haben auch die neuen Methoden nicht unbedingten Vorrang, also nicht in jedem Fall Spiegeln vor Deuten, nicht unbedingt offene Interaktion, Selbstmitteilung des Analytikers oder körpertherapeutische Einlagen. Vorrang hat der Einzelfall und die Abstimmung zwischen Therapeut und Patient.

2. Fortsetzung der Paraphrase des Kernberg-Zitats: Grundsätzlich gilt, dass der individualpsychologische Analytiker vermeidet, eine Autorität zu sein und mehr Recht zu haben als der Patient.

3. Bei der Analyse des Übertragungs-/Gegenübertragungs-Geflechtes konzentrieren wir uns auch und manchmal besonders auf reale Vorkommnisse in der therapeutischen Beziehung.

4. Es geht um eine Kompensation für die Vernachlässigung oder den Missbrauch des kindlichen Selbstes der Patienten, und wir individualpsychologischen Therapeuten sind uns bewusst, dass wir selbst dabei Verantwortung übernehmen müssen.

5. Wir gehen davon aus, dass sich die Persönlichkeit kontinuierlich in einer Beziehungsmatrix entwickelt und dass alle Trieb- und Über-Ich-Konflikte ihre Lösung oder ihr neurotisierendes Schicksal in dieser Beziehungsdynamik ausformen.

6. Darum muss auch in der Therapie ständig das intersubjektive Feld der Beziehung zwischen Patient und Analytiker aufmerksam beachtet und analysiert werden.

7. Wir nehmen nämlich an, dass der Patient neue affektive interpersonale Erfahrungen integrieren und neue Beziehungsmuster aufbauen muss, um emotional reifen zu können.

8. Im nächsten Satz sagt Kernberg: "Eine Hauptkonsequenz in dieser durchgängigen Wende in der psychoanalytischen Sichtweise ist das In-Frage-Stellen der traditionellen positivistischen Auffassung der Objektivität des Analytikers bei der Deutung [...]" Diesen Satz kann ich, wie ich oben gezeigt habe, nicht übernehmen. Der Zweifel an der Objektivität der psychoanalytischen Deutung ist nämlich keine Konsequenz aus dem Verzicht auf die technische Neutralität, sondern umgekehrt: Da wir uns von Anfang an gegen die Anmaßung gewehrt haben, das individuelle Erleben objektiv wie einen biochemischen Prozess deuten zu können, haben wir (mit Adler) angenommen, dass mein Verstehen der Subjektivität des Anderen selbst auch subjektiv ist. In der Analyse verhandeln zwei Subjekte miteinander und nicht ein Subjekt, der Analytiker, mit einem Objekt, dem psychischen Apparat des Analysanden.

9. Im letzten Satz dieses Abschnitts deutet Kernberg etwas verschnörkelt an, für die intersubjektive und interpersonelle Vorgehensweise sei die korrigierende emotionale Erfahrung der hauptsächliche therapeutische Faktor. Ein Individualpsychologe könnte etwa sagen: Der Patient kann an und mit dem Therapeuten die Erkenntnis und die lebendige Erfahrung davon gewinnen, dass wir alle unser Wahrnehmen und Handeln unbewusst immer nach schädigenden Mustern früher Beziehungen verzerren. Wenn es gut geht, kann er aber in der Therapie auch eine echte Kommunikation und Kooperation erfahren, in der Missverständnisse sich auflösen und ein neues Selbst- und Gemeinschaftsgefühl entsteht. Dies ist die Voraussetzung zu einer aktiven und kreativen Bejahung des Lebens.

Manche Therapeuten, die an den Alfred-Adler-Instituten ihre Ausbildung absolviert haben, sind der Meinung, dass die neueren Entwicklungen in der Psychoanalyse ihnen einen ausreichenden theoretischen Rahmen für ihre Praxis bieten, so dass ihnen ein Rückgriff auf Adler selbst nur noch einen historischen Sinn zu haben scheint. Viele lassen sich auch von den häufig schroffen Formulierungen Adlers abstoßen. Vielleicht ist sogar die Mehrzahl der Individualpsychologen der Ansicht, die moderne Individualpsychologie gehe in einer Kombination der neueren Strömungen der Psychoanalyse auf. Und da die Individualpsychologen getreu dem Motto Adlers "Alles kann auch anders sein" nicht dogmatisch sind, wird niemand solche vermeintlichen Abweichler maßregeln.

Das spezifische "Gesichtsfeld" der Individualpsychologie

Hat also die Individualpsychologie kein eigenes Territorium mehr im Revier der zeitgenössischen analytischen Therapieformen? Ich meine, dass sich aus Adlers Theorieansätzen schon eine klare Position in der zeitgenössischen psychoanalytischen Diskussion ableiten lässt. Diese Position liegt allerdings für mich nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der neueren Strömungen.

Freud meinte, Adlers Individualpsychologie sei zwar radikal falsch, aber sie sei immerhin noch eine Trieblehre (Freud, 1941, 105). Wie ist ein solches Missverständnis möglich. Freud hat richtig gesehen, dass Adler seine Lehre zwar nicht auf die Sexualität stützte, sondern auf die sogenannten Ichtriebe bzw. auf den Aggressionstrieb. Das Wort "Trieb" ist hier noch im ursprünglichen allgemein-psychologischen Sinne gemeint, wie es im 19. Jahrhundert üblich war. Nietzsche (1966, II, 571) z. B. sagt: "Wer aber die Grundtriebe des Menschen daraufhin ansieht, wieweit sie gerade hier [in den entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen] als inspirierende Genien (oder Dämonen und Kobolde-) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden, dass sie alle schon einmal Philosophie getrieben haben – und dass jeder einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigen Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig, und als solcher versucht er zu philosophieren". Mit dem Wort Trieb war zunächst jede Kraft gemeint, die den Menschen unterhalb seines freien Willens bestimmen kann. Freud selbst hat die Bedeutung des Wortes erst 1914 (!) auf die biologisch-organische Funktion festgelegt (s. Editorische Vorbemerkung zu Freud, 1915/1975)[2]. Deswegen hat Adler später auf die Verwendung dieses Wortes verzichtet. Aber dieser Ursprung ist wichtig, wenn man Adlers Verständnis vom Ich bzw. vom Unbewussten verstehen will. Die zentralen steuernden Ichkräfte sind für Adler nämlich unbewusst. Das ist freilich etwas anderes als das Freudsche Unbewusste der Verdrängung; aber gleichwohl ist es etwas eminent Dynamisches. Gerade die Monopolisierung des Unbewussten durch die Freudsche Orthodoxie mit der Einengung des dynamischen Unbewussten auf das Verdrängte war ja einer der Divergenzpunkte, die zu Adlers Ausscheiden aus der Wiener psychoanalytischen Vereinigung geführt haben.

Was ist also das Ich, das die Individualpsychologie für die Quelle der psychischen Störungen wie der psychischen Gesundheit hält?

Bezeichnend für Adler ist, dass er hiefür keinen Begriff wählt, der die Vorstellung von einer dinglichen Gegebenheit, einer Entität, einer Substanz, eines Konstrukts oder einer Struktur nahe legt. Der Quelle der Individualität oder Identität des Individuums gegenüber ist die Frage: Was ist das nicht angemessen, weil es nicht als Etwas existiert. Adlers Namen hierfür sind Bewegung, Leben, Lebensstil, individuelles Bewegungsgesetz. Wenn Adler den Begriff "das Ich" benützt, dann immer mit einem Zusatz, der eine statische, strukturelle Vorstellung aufhebt. "Was häufig als das 'Ich' (Ego) bezeichnet wird, ist nichts weiter als der Lebensstil" (Adler, 1983 a. 72). "Der menschliche Geist ist nur allzu sehr gewöhnt, alles Fließende in eine Form zu bringen. nicht die Bewegung, sondern die gefrorene Bewegung zu betrachten, Bewegung, die Form geworden ist. Wir Individualpsychologen sind seit jeher auf dem Weg, was wir als Form erfassen, in Bewegung aufzulösen. [...] Leben heißt sich entwickeln, ist Bewegung, die nach Selbsterhaltung geht, nach Vermehrung, nach Kontakt mit der Außenwelt, , nach siegreichem Kontakt, um nicht unterzugehen" (ebd. 22f).

Die Frage nach Ich, das die Individualpsychologie für die Quelle der psychischen Störungen wie der psychischen Gesundheit hält, wäre in der psychoanalytischen Fachsprache abzuwandeln in die Frage nach dem Selbst, und die Frage nach dem Selbst wäre vielleicht zu beantworten: Das Selbst ist die Weise oder der Stil, "wie sich diese Kraft 'Leben' in jedem einzelnen Individuum durchsetzt" (1983 a. 72).

Christiane Ludwig-Körner (2000, 645) fasst im neuen 'Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe' die theoretische Situation treffend zusammen: "Die vielfältigen und schillernden Aspekte des Selbst ermöglichen heute noch keine eindeutige Definition. Es lassen sich aber Definitionen des Selbst als Struktur von einem prozessualen Verständnis des Selbst unterscheiden". Wenn wir von dieser Unterscheidung ausgehen, wäre das Selbst bei Adler in einem solchen Maße prozessual konzipiert, dass er sogar einen statisch-zuständlichen Namen dafür (Ich oder Selbst) meidet.

In der psychoanalytischen Ich- wie in der Objektbeziehungs-Theorie wird das Selbst meistens als Struktur oder als Summe bezeichnet, deren Eigenleben allerdings seltsam unbestimmt bleibt. Dieses Eigenleben, eben die unbewusste Dynamik des Selbst, aber wäre das, was den Individualpsychologen vor allem interessiert. Nun haben die psychoanalytischen Ich- und Objektbeziehungs-Psychologen freilich mehr über das Selbst zu sagen, als dass es Struktur ist. Es ist nämlich die Struktur der Selbstrepräsentanzen. Das Kunstwort 'Repräsentanz' ist das englische Übersetzungswort für das Freudsche Wort 'Vorstellung'. Das Selbst wäre demnach die Summe oder die Struktur der unbewussten Vorstellungen, die das Individuum von sich selbst hat. (vgl. Ludwig-Körner, ebd.) Es kann keinen Zweifel geben, dass es überaus lohnend ist, die Entwicklung der Selbstrepräsentanzen und ihre Abgrenzung von den Objektrepräsentanzen zu untersuchen. Das ist aber noch nicht, was Adler als das Einmalige des Individuums erfassen wollte.

Auch Lichtenberg (2000, 14) sieht im Selbst "ein unabhängiges Zentrum, in dem Motivation ausgelöst, organisiert und integriert wird". Ähnlich ist für Kohut (1979) das bipolare Selbst ein Zentrum des Erlebens, Intendierens und Handelns. Störungen des Selbst, sogenannte Fragmentierungen und Identitätsdiffusionen, werden dann als Bruch der individuellen Integrität, als Defizit oder Defekt verstanden. Keine Frage, dass solche Zustände Erfahrungen von schlimmem Leiden sind. Trotzdem aber sind sie aus der Sicht des Individualpsychologen als kreative Leistung anzusehen, entsprungen aus dem Zwang, die ständig bedrohte Einheit der Persönlichkeit zu retten. Sogar die Selbstverletzung, die mörderischen Hassgefühle, die subjektiven Bewusstseinsinhalte der Depression lassen sich noch als Leistung verstehen, die aus dem unbewussten Willen der Selbsterhaltung, aus dem Zwang zur Sicherung der psychischen Existenz entstehen.

Die Beschreibung und Auswertung der fünf motivationalen Systeme durch Lichtenberg ist zweifellos ein großer Gewinn für die Psychoanalyse, und manche Individualpsychologen übernehmen uneingeschränkt Lichtenbergs analytisches Vorgehen. Von einem etwas präziseren adlerianischen Standpunkt allerdings müsste man eine theoretische Ergänzung anfügen. Was die motivationalen Systeme zusammenhält, organisiert und jeweils aktiviert, wäre für Lichtenberg das Selbst sozusagen als uneigennütziger, ausgleichender Dirigent. Für Adler aber hat der Lebenswille im Individuum selbst ein Interesse, dem er alle Motivationen und Affekte unterordnet: Er will leben, sicher sein, seine Lebenssphäre steigern. In Anlehnung an Nietzsche nannte Adler diesen Lebenswillen im Menschen den "Willen zur Macht" (Adler, 1912 a/1997). Dieser Begriff Adlers wird leider meistens missverstanden, als ob er ein Trieb sei, den Adler zu Freuds Libido in Konkurrenz gesetzt hätte, oder als ob er ein Bedürfnis bezeichnete, Macht über andere zu haben, das in Konkurrenz zu anderen Bedürfnissen stünde. Der "Wille zur Macht" wird dann verwechselt mit dem Machtstreben, das es natürlich gibt, das aber hier gerade nicht gemeint ist. Stellen wir zur Erinnerung einmal Lichtenbergs fünf motivationale Systeme zusammen: "1. das Bedürfnis nach psychischer Regulierung physiologischer Erfordernisse, 2. das Bedürfnis nach Bindung und - später- Zugehörigkeit, 3. das Bedürfnis nach Exploration und Selbstbehauptung, 4. das Bedürfnis, aversiv zu reagieren - mit Antagonismus oder Rückzug - und 5. das Bedürfnis nach sinnlichem Genuss und sexueller Erregung" (Lichtenberg et al., 2000, 13). Es fällt auf, dass diese fünf Motivationssysteme als fünf Bedürfnisse bezeichnet werden. Man könnte demnach auch von einem Bedürfnis sprechen, das sich in fünf Leitlinien entfaltet. Genau das ist mit Adlers zentraler Lebensbewegung des Individuums gemeint. Das Leben des Individuums zeigt sich als Bedürfnis oder als Tendenz. Der Lebenswille aktiviert sich gerade, indem er diese Bedürfnisse aktiviert. Der "Wille zur Macht" ist der Lebenswille schlechthin. Das Wort bezeichnet die Tendenz des Lebens, speziell der Psyche, zur Selbstmächtigkeit oder zur Selbstermächtigung. Man übersieht oft, dass Nietzsche und auch Adler nicht in erster Linie von der Macht sprechen, sondern von einer Eigenart des Willens, nämlich mächtig sein zu wollen, und dieses Charakteristikum finden beide Autoren gerade bei solchen Menschen, denen die reale Macht fehlt. Wenn der "Wille zur Macht" alle bewussten und unbewussten Intentionen des Individuums durchherrschen soll, ist damit gesagt, dass es dem Dasein in allem um sein Seinkönnen selbst geht (Heidegger). Mit einfacheren Worten: Hinter jeder Lebensregung tut sich der Existenzkampf auf, der aber ist auf Sicherung aus und auf Steigerung des Könnens zur Sicherung des Gesicherten. Ich übersetze "Willen zur Macht" ins Psychologische mit dem Ausdruck "unbedingtes Könnenwollen" (Witte, 1988). Damit ist also nicht gesagt, dass es keine anderen Anmutungen, Erlebnis- und Erfahrungsweisen, Zielsetzungen und Erfüllungen gäbe, Freude, Neugier, Sympathie, Spiel, Spaß, Lust, Kreativität. Ja, all das zusammen und jedes Einzelne kann sogar seine tiefste Erfüllung im Miteinander-Erleben finden. Das ist deshalb kein Einwand, weil all diese Erfahrungsweisen nur möglich sind, wenn der "Wille zur Macht" nicht eigens herausgefordert ist, sondern unbewusst wirkt. Der Wille zur Macht tritt bewusst nur auf den Plan, wenn "die Macht" bedroht ist, wenn ich mein Könnenwollen bewusst einsetzen muss. Im Gelingen wird der Wille zur Macht nicht thematisiert.

In dieser Position bezieht sich das Kind oder der Erwachsene auf alle Ereignisse seines Lebens mit Besorgnis um sein Selbst. Alles erscheint auf und gegen das Selbst gerichtet, entweder zum Wohl oder Wehe. Es ist müßig zu fragen, ob diese Weise des In-der-Welt-Seins angeboren und unvermeidlich ist. Es scheint, dass es gegenwärtig in der Regel so ist und dass die kollektiven Wertsystem eine solche Haltung auch nahe legen. Nach meinem Verständnis entspricht diese Konzeption Adlers von der menschlichen Befindlichkeit der Sache nach der paranoid-schizoiden Position Melanie Kleins. Diese Stellungnahme zum Leben wäre aber mit Adler nicht als eine entwicklungspsychologische Phase, sondern als eine Haltung, sozusagen als eine private Weltanschauung (Adlers "private Logik") zu verstehen unter dem Gesichtspunkt, ob ich kriege, was mir zusteht. Sie ist dann eigentlich nicht ein Affektzustand, sondern eine Sichtweise (bei Adler "Apperzeption" oder "Operationsbasis"), welche die Regulierung des eigenen Verhaltens in einer als feindlich empfundenen Mitwelt ermöglichen soll.

Nach Melanie Klein (Hinshelwood, 1997) wie nach Alfred Adler gibt es keine seelische Gesundheit, wenn der Mensch in dieser "paranoid-schizoiden Position" bzw. derjenigen des "Willens zur Macht" verharrt. Den Begriff "paranoid-schizoide Position" kann man mit selbstzentrierte Misstrauens- und Vorwurfshaltung übersetzen. Die dialektisch entgegengesetzte "depressive Position" ist bei Klein gekennzeichnet durch die Sorge um das "Objekt", d. h. die "Brust", die Mutter, den gewährenden oder versagenden Partner. Die zugehörige Angst fürchtet, das "gute Objekt" endgültig zu verlieren, es durch die rache- und hassvollen Enttäuschungsreaktionen endgültig vernichtet zu haben oder vernichten zu können. Der beziehungsdynamisch wertvollste Gewinn der "depressiven Position" im Vergleich mit der vorangegangenen ist, dass der gebende oder versagende Partner nunmehr nicht nur quasi als "Supermarkt", sondern als ganze Person wahrgenommen wird, der gegenüber man Schuldgefühle und Dankbarkeit empfinden kann.

M. Klein sieht im Unterschied zur Freudschen Psychoanalyse die Liebe nicht als Reaktionsbildung an, sondern als Kraft, die ebenso wie der Hass angeboren, das heißt dem Menschen wesensgemäß ist: "Gefühle von Liebe und Dankbarkeit entspringen direkt und spontan im Baby als Antwort auf die Liebe und Zuwendung der Mutter" (Klein, 1994, 65, 124). Damit formuliert M. Klein die Grundlage dessen, was auch Adler für die unverzichtbare Voraussetzung der seelischen Gesundheit erklärt hat. Sie nennt es Liebe und Dankbarkeit, er nennt es Gemeinschaftsgefühl.

Nur diese Gefühle führen aus dem Engpass der paranoid-schizoiden Position bzw. aus der ich-verkrampften Sicherungshaltung heraus. Nicht die Ansprüche der Gerechtigkeit und nicht die Protestschreie des hungrigen Säuglings führen zur erlösenden Befriedigung, sondern die zuvorkommende beruhigende Zuwendung der Mutter. Dies ist der Ursprung des Beziehungsgeflechtes, in den das Kind hineingeboren und hineinentwickelt wird. Interpersonell und intrapsychisch ist der Mensch ein Beziehungswesen.

Das Kind braucht die zuvorkommende Zuwendung der Eltern. Die Haltung des Psychotherapeuten hat Peter Padrutt (1995, 142) mit einer Formulierung von Martin Heidegger als "zuvorkommende Zurückhaltung" bezeichnet. Dies könnte zusammen mit einem zurückhaltenden Entgegenkommen eine angemessene Charakterisierung einer mitmenschlichen therapeutischen Haltung sein.

Literatur

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Dr. phil. Karl Heinz Witte

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[1] Hier das Original: Meanwhile, a new psychoanalytic current is gradually diverging from the mainstream just summarised (Kernberg, 1997). This new current, particularly marked in the United States, is the development of Intersubjective and Interpersonal psychoanalytic approaches that include Self-psychology, on the one hand, and the cultural psychoanalytic tradition expressed in contemporary Interpersonal psychoanalysis, on the other. In so far as Self-psychology focuses on self–self-object transferences as the major matrix of psychoanalytic treatment, it implies a movement away from technical neutrality, an emphasis on emotional attunement and the analyst’s subjective immersion in the patient’s subjective experience. This approach also accentuates an ‘anti-authoritarian’ attitude on the part of the analyst, questioning the privileged nature of the analyst’s subjectivity. The present-day intersubjective and interpersonal approaches, moving in the same direction, focus on the ‘real’ aspects of the transference/countertransference bind, on the analyst’s role in compensating for past overstimulation or understimulation of the patient’s archaic self, and consider that the personality develops continuously within a relationship matrix (rather than in the context of expressing conflicts between drives and defences against them). This concept of development requires a consistent focus on the intersubjective field in the relationship between patient and analyst, and assumes that the patient’s emotional growth depends on the integration of new affective interpersonal experiences. A major consequence of this overall shift in psychoanalytic perspectives is the questioning of the traditional, positivist view of the analyst’s objectivity in interpreting the patient’s transference distortions and their origins. The intersubjective and interpersonal approach favours a constructivist model, in which the exploration of developments in the new affective relation in the psychoanalytic encounter is the basic source of interpretation, and the patient’s incorporation of this affective experience is considered a major therapeutic factor.

[2] Erst 1914 hat Freud die berühmte Definition in die dritte Auflage der 'Drei Abhandlungen' (Freud, 1905/1972, 76f) eingefügt. Danach verstehe er unter "Trieb" "die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle, [...] Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ, und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes. [Zusatz 1924:] Die Trieblehre ist das bedeutsamste, aber auch das unfertigste Stück der psychoanalytischen Theorie."