Karl Heinz Witte
Einführung
Die
individualpsychologische Therapie arbeitet in Deutschland nach den Richtlinien
der gesetzlichen Krankenkassen. Sie wird für Erwachsene sowie für Kinder und
jugendliche von hierfür ausgebildeten und zugelassenen Ärzten, Psychologen und
analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten angeboten. je nach
Einzelfall kann sie als Kurzzeittherapie, als tiefenpsychologisch fundierte
(problemorientierte) Therapie oder als analytische Langzeittherapie
durchgeführt werden, und zwar entweder als Einzeltherapie oder in einer Gruppe.
Ursprünge
Alfred Adler (1870-1937)
arbeitete in den Aufbaujahren der Psychoanalyse von 1902 bis 1911 im
Kreis von Sigmund Freud mit. In dieser Zeit galt sein Forschungsschwerpunkt
zunächst den angeborenen Ausgleichs- und, Überwindungskräften
("Kompensation"), welche Schädigungen oder Behinderungen im
körperlichen und seelischen Aufbau der Person wettmachen können. Seit 1909
entwickelte er die Ansicht, daß eine einheitliche Kraft der Überwindung das
Seelenleben lenke und gestalte. Aus ihr heraus bildeten sich die prägenden
Charakterzüge, und sie benutze auch seelische Störungen, z. B. Ängste,
Depressionen, Zwänge, Wahnvorstellungen, als Alarmsignale oder Notbremsen, um
sozusagen auf einem Umweg und unter teilweise einschneidenden Opfern das Selbst
und das Beziehungssystem doch noch funktionsfähig zu erhalten.
Mit diesen Ideen geriet
Adler zunehmend in Konflikt mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der die
Verdrängung der Sexualität für die beherrschende Kraft des Seelenlebens hielt
und seine Mitarbeiter auch auf diese Position einzuschwören versuchte. ig i i gründete Adler mit einigen Anhängern, die
mit ihm die Wiener psychoanalytische Vereinigung verlassen hatten, eine eigene
Gruppierung, die er zunächst Verein für freie psychoanalytische
Forschung", bald darauf Verein für vergleichende
Individualpsychologie" nannte.
Grundannahmen
In der Namengebung
drückt sich aus, daß Adler seine Therapie im Bereich der psychoanalytischen
Methode ansiedelte, d. h. in der Erforschung und Integration unbewußter Motive,
daß er aber inhaltlich einen anderen Komplex von Motiven für ausschlaggebend
hielt als Freud. Dieser zweite Schwerpunkt ist mit dem Namen
Individualpsychologie" angezeigt. Sie geht davon aus, daß wir uns die
objektiven Einflüsse auf unseren Lebensweg und unsere seelische Gesundheit in
einer unteilbaren ganzheitlichen Lebensbewegung aneignen. So ist in der
Verarbeitung von seelischen Störungen immer ein individueller Gestaltungsfaktor
wirksam. Diese individuelle Stellungnahme macht auch den Kern einer psychischen
Erkrankung aus. Nur wenn dieser individuelle, nicht auf allgemeine Gesetze
reduzierbare Kern des persönlichen Erlebens in der Selbsterfahrung verstanden
und heilend belebt wird, ist die individualpsychologische Therapie an ihr Ziel
gekommen.
Daraus ergibt sich das Selbstverständnis
der individualpsychologischen Therapie. Sie teilt mit den
allgemeinpsychologischen, tiefenpsychologischen und psychoanalytischen
Therapierichtungen die allgemeinen, wissenschaftlich erforschbaren Annahmen
über den Aufbau der Persönlichkeit und die Funktion seelischer Störungen. Sie
geht aus von der Verwurzelung seelischer Störungen in Belastungen und
problematischen Entwicklungen der Kindheit, die zu größtenteils unbewußten
inneren Konflikten geführt haben. Insbesondere durch die Ergebnisse der
modernen Säuglings- und Kleinkindforschung findet sich die
Individualpsychologie in ihren Grundannahmen bestätigt und bereichert.
Maßgebliche
Gesichtspunkte für eine gesunde seelische Entwicklung - und umgekehrt für die
Ausbildung von seelischen Störungen - sind die Ausgestaltung eines gesunden
Gefühls für den Reichtum des Selbst und die Integration der Schatten- und
Mangelerfahrungen unseres Lebens. Darauf kann die Entwicklung eines stabilen
Selbstwertgefühls in der Beziehung und Gemeinschaft mit den Mitmenschen
aufbauen. Störungen der Selbstentfaltung und der Beziehungsfähigkeit in der
Kindheit können zu psychischen Erkrankungen führen.
Methoden
Aus den Gegebenheiten
des Einzelfalls
leitet sich ab, welche therapeutische Methode am sinnvollsten ist.
In der tiefenpsychologisch fundierten
Psychotherapie konzentriert
sich die Arbeit auf ein aktuelles Problem. Zum Beispiel kann eine wiederholte
Fehlreaktion in einer Prüfung, in einem Bewerbungsgespräch oder in einem
Beziehungskonflikt aus einer Übertragung von Erlebnisreaktionen, die in der
Familiensituation erworben wurden, entstehen. In der Therapie wird dann zu
klären sein, in welcher Situation das "Versagen« ausgelöst wird (etwa beim
Lernen, beim Warten, beim Schreiben oder im Gespräch) und welche inneren
Reaktionen das Versagen« bewirken (z.B. Grübeln, Zweifelsucht,
"Ladehemmung,« Wut, Stolz, Nichtverstehen, Kommunikationsstörung). In der
Therapie werden dann die Situationen und die Reaktionen aufgespürt, die dieses
Lebensmuster ursprünglich geprägt haben. Kindheitserinnerungen,
Wiederholungsträume, Gewohnheiten, die bisher wenig beachtet wurden, enthüllen
dabei oft ein Reaktionsmuster, das auch aktuell das Versagen« bedingt. Indem
solche Muster in vielen alltäglichen Situationen aufgespürt und durchgearbeitet
werden, können Verhaltens- und Erlebensalternativen erkennbar werden. Diese
werden im Dialog, oft auch in probehandelnder Phantasie, im Rollenspiel oder in
der Nachbesprechung anhand von neu auftauchenden Spontanreaktionen verfügbar
gemacht. Der Bezug zur Problemsituation (z. B. der Prüfung) bleibt im
Hintergrund immer präsent. Durch die Einbettung der aktuellen Problematik in
den lebensgeschichtlichen und sozialen Zusammenhang ist die Problemlösung
ganzheitlicher, als würde man nur"am Symptom arbeiten". Die
Umstellung der Lebensstil- und Beziehungsmuster bringt eine breitere Ermutigung
mit sich und macht die Übertragung der Lösungsstrategien auf die aktuelle Problemsituation
möglich.
In der analytischen Psychotherapie werden psychische Störungen und
Probleme bearbeitet, die über einen aktuellen Anlaß hinaus eine länger währende
Geschichte haben und schädlichen Einfluß auf das gesamte Lebensgefüge des
Patienten ausüben. Beispiele hierfür sind die generalisierte Angststörung,
Zwangserkrankungen, Depressionen, wiederholte und belastende
Beziehungsstörungen, körperliche Beschwerden ohne organischen Befund,
psychosomatische Erkrankungen, Borderline-Syndrom und einige psychotische
Erkrankungen. Die analytische Psychotherapie besteht in einem intensiven
emotionalen Prozeß mit mindestens zwei Sitzungen pro Woche. Hier ist der
entscheidend wirksame Faktor die Wiederbelebung der Emotionen, welche die
störenden Reaktionen und Symptome ausgelöst haben. Diese Wiederbelebung
geschieht in der therapeutischen Situation selbst. Sie löst im Patienten
Gefühle aus, die dieser seinerzeit vielleicht einem Elternteil oder einem
Geschwisterkind gegenüber hatte, oder noch allgemeiner: Gefühle oder Bewußtseinszustände,
die sich in ihrer ursprünglichen Gestalt niemals voll ausdrücken und die
niemals beruhigt abklingen konnten. In der analytischen Psychotherapie ist also
Gelegenheit, Erlebnisse und Gefühle zu verarbeiten, die oft ein Leben lang
unterdrückt oder verdrängt werden mußten oder die sich in störenden Symptomen,
Charakterzügen oder sozialen Konflikten Luft machen.
Prinzipiell werden die
gleichen Grundmethoden, nämlich Kurzzeit- und analytische Langzeittherapien in
der Kinder- und
Jugendlichen-Psychotherapie angewandt. Im freien Spiel des Kindes wird symbolisch
dargestellt, was das Kind erlitten hat oder woran es leidet. Zusammen mit der
Therapeutin werden die Wünsche und Enttäuschungen, Liebe, Haß, Angst und Mut in
Szene gesetzt. Gefühle und Beziehungsmuster treten in Gestalt von wilden
Tieren, allmächtigen Gewaltverbrechern, gequälten Feinden, siegreichen
Befreiern und hilfreichen Freunden auf. Die "schöpferische Kraft« (Adler)
der kindlichen Psyche erfindet im Spiel und in der Beziehung zur Therapeutin
den Heilungsweg selbst, sammelt die Kraft und die Beweglichkeit, die sie
braucht, um das Leben in seiner Realität, in Familie, Schule und Freundeskreis
zu meistern.
Die
individualpsychologische Kurzzeittherapie mit Kindern und Jugendlichen wird
auch in familientherapeutischen Sitzungen durchgeführt. In die analytischen
Therapien mit Jugendlichen werden die Eltern meistens nicht einbezogen. Bei
analytischen Therapien mit Kindern findet in der Regel eine "begleitende
Therapie" der Eltern oder der anderen wesentlichen Bezugspersonen statt.
Hierbei handelt es sich weniger um eine pädagogische Beratung der Eltern"
etwa unter dem Aspekt, was sie falsch machen und wie sie dem Kind besser helfen
könnten. Vielmehr wird den Eltern die Gelegenheit angeboten, ihre eigenen
Vorstellungen von ihrem Kind zu erforschen und auszutauschen, ihre Hoffnungen
und Enttäuschungen auszusprechen und ihre früheren und gegenwärtigen Reaktionen
auf das Kind zu überdenken. Zusammen mit dem Veränderungsprozeß, der sich durch
die Therapie des Kindes entwickelt, ändert und vertieft sich in der Regel auch
die Beziehung der Eltern zu ihm.
Fallbeispiel
Schon der Anfang der
Therapie gestaltete sich schwierig, da die depressiv-ängstliche Patientin auf
Nachfragen oder Verständnislücken des Therapeuten bei der Schilderung der
Symptomatik und der Biographie mit Panik reagierte und mit einer Tendenz, die
Therapie abzubrechen, bevor sie noch begonnen hatte. Zusammen mit dem äußerlich
geringfügig erscheinenden Anlaß der gegenwärtigen Krise und mehreren
depressiven Episoden und Suizidtendenzen in der Vorgeschichte lag der Eindruck
nahe, es mit einer besonders "schwierigen« Patientin zu tun zu haben, und
damit im Zusammenhang schienen Vorsicht und Zurückhaltung angezeigt, bevor sie
in eine analytische Therapie übernommen werden konnte. Ermutigend erschienen
allerdings nach den ersten Stunden einige Träume. In einem von ihnen ging die
Patientin an einem Bach entlang einen Berg aufwärts, an mehreren
niederbrennenden Häusern vorbei und gelangte bei der Quelle zu einer Gruppe von
clownhaft artistisch tanzenden Leuten.
Den Ausschlag zum Beginn
der Therapie gaben nicht die skeptischen diagnostischen Erwägungen, sondern
diese Träume, deren symbolische Bewegung einen Weg aufwärts zum Ursprung und
die Integration in eine Gemeinschaft vitaler, freilich exzentrischer Lebensart
zeigte. Obwohl die niederbrennenden Häuser flammende Konflikte und Verluste auf
dem Entwicklungsweg signalisierten, berechtigte das Vertrauen in die
schöpferische Kraft," diesen Initialtraum als Hinweis auf einen guten
Verlauf der Psychotherapie zu verstehen.
Auch wenn die
fachgerechte klinisch-psychologische Diagnose unerläßlich ist, richten sich die
Entscheidungen und Vorgehensweisen ganz am Einzelfall aus. Vorrang hat hierbei
die spontane und kreative Begegnung zwischen Therapeut und Patient. Im
geschilderten Fall erwiesen sich die Psychopathologie und der diagnostische
Prozeß selbst als Äußerung eines Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens.
Das heißt: Die Weise, wie die Patientin sich am Beginn einer bedeutungsvollen
Beziehung (zum Therapeuten) und eines Lebensabschnittes (der Therapie) gab, war
emotional die Wiederholung einer traumatisch erlebten frühkindlichen
Beziehungskrise: Das Kind hatte im ersten Lebensjahr weggegeben werden müssen
und war, nachdem es wieder in die Familie aufgenommen worden war, immer als
"schwierig« und störend behandelt worden. Ohne es verhindern zu können, ja
zu ihrem größten Unglück gab sie sich auch in den Erstgesprächen als extrem
schwierig, war es durch die zahlreichen Wiederholungen in ihrem Leben auch
tatsächlich geworden und erzeugte dementsprechend im spontanen
Gegenübertragungsgefühl des Therapeuten gerade die mißtrauische Zurückhaltung,
die sie in der Familie krank gemacht hatte.
Der Vorgang ist ein
Beispiel dafür, daß der Therapeut die Gefühle, die der Patient/die Patientin in
ihm erzeugt, als Botschaft versteht~ die nicht eine unmittelbare Reaktion
verlangt, sondern einen verborgenen Therapiewunsch signalisiert, der erst
verstanden werden will. In diesem Fall-, "Stärke in mir die Zuversicht,
daß Du auch mit meinen schwierigen und abstoßenden Seiten fertig wirst."
Ferner wird hier deutlich, daß nicht allein die Symptome Gegenstand der
Therapie sind, sondern auch und vor allem die Bedeutung, welche die Symptome im
Lebensgefüge der Patienten gewonnen haben. In diesem Fall hatten die
Zuschreibungen von seiten der Familie eine Verrücktheitsangst der Patientin
erzeugt, die auch pseudopsychotische Symptome hervorrief. Die Patientin hatte
eine negative Identität entwickelt: Als "verrücktes Huhn« und
"schwarzes Schaf« konnte sie dazugehören und hatte auch für sich selbst
eine Begründung dafür gefunden, daß sie nicht geliebt, sondern nur geduldet
wurde. Verlassenheitsangst und Depression waren somit der Krankheitszoll, den
sie entrichten mußte, um sich nicht völlig ausgestoßen zu fühlen.
Der oben geschilderte
Traum, der durch zahlreiche nachfolgende Träume bestätigt und ausgearbeitet
wurde, deutet eine Lösung an, die aus der schöpferischen Kraft der Patientin
erwuchs. Sie fand eine neue Gemeinschaft, in der sie sich nicht wie zuvor als
psychisch Kranke einem unduldsamen Familiensystem unter-werfen mußte, sondern
ihr Anderssein kreativ und vital ausgestalten und als wertvollen Beitrag
anerkannt finden konnte.
Gegenwärtiger Stand
In Deutschland bestehen
derzeit sechs Ausbildungs- und Therapiezentren (Alfred-Adler-Institute) in
Aachen/Köln, Berlin, Delmenhorst, Düsseldorf, Mainz und München. Informationen
und Therapeutenlisten vermittelt die Bundesgeschäftsstelle der Deutschen
Gesellschaft für Individualpsychologie - DGIP (Adresse s. Anhang).
Empfohlene Literatur
Adler, A.- Über den
nervösen Charakter: Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und
Psychotherapie. Kommentierte textkritische Ausgabe, hg. v. Karl Heinz Witte,
Almuth Bruder-Bezzel und Rolf Kühn. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1997
(ferner die Werke Alfred Adlers im Fischer Taschenbuchverlag).
Brunner, R., Titze,
M. (Hrsg.):
Wörterbuch der Individualpsychologie. München/Basel: EmstReinhardt, 1995. Lebmkuhl,
U. (Hrsg.): Heilen und Bilden - Behandeln und Beraten:
Individualpsychologische Leitlinien heute. Beiträge zur Individualpsychologie
22. München/Basel: Ernst Reinhardt, 1996.
Schmidt, R.: Kausalität, Finalität und
Freiheit: Perspektiven der Individualpsychologie. München/Basel: Ernst
Reinhardt, 1995.
Witte, K H. (Hrsg.): Praxis und Theorie der
Individualpsychologie heute: Aus der analytischen Psychotherapie mit Kindern,
jugendlichen und Erwachsenen. München/Basel: Ernst Reinhardt, 1992.