9

Vorwort

Der Titel unseres Sammelbandes könnte unbescheiden klingen, wollte man darin einen zusammenfassenden, abschließenden Bericht angekündigt sehen. Er soll aber eher einen Diskussionsbeitrag zur stets notwendigen Positionsbestimmung anzeigen. Mit der Anspielung auf Alfred Adlers „Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer" ([1920] 1974) verbinden wir einen Hinweis auf die Form und die Intention seiner damaligen Publikation. Sie sollte die Grundannahmen der individualpsychologischen Theorie in verschiedenen Bereichen der psychotherapeutischen Praxis spiegeln, aber ebenso aufzeigen, daß und wie sich die leitenden Erkenntnisprinzipien der Individualpsychologie aus den Phänomenen der Praxis begründen.

In dieser Weise halten auch die Beiträge unseres Sammelbandes Theorie und Praxis nicht getrennt: Wir wollen anschaulich machen, wie sich analytische Psychotherapie in der Individualpsychologie gestaltet. Die Theorie ist dabei - im ursprünglichen Wortsinn - die Schau, die Sichtweise, in der sich die Phänomene uns darstellen. Noch in einem anderen Sinn knüpfen wir an Alfred Adlers „Praxis und Theorie der Individualpsychologie" an. Seine Beiträge stellen einige Gesichtspunkte seiner „frühen" Theorie in den Vordergrund, die in den späteren praktischen und eher popularwissenschaftlichen Arbeiten zurücktraten. Die Wirkung der unbewußten Meinungen und des fiktiven Persönlichkeitsideals in der Neurose und die finalanalytische Vorgehensweise in der Therapie sind dort - wie auch in unseren Arbeiten - Schlüsselbegriffe.

Die hier versammelten Beiträge wurden in der Zeit vom 14. Januar bis l. Februar 1992 im Münchner Kulturzentrum am Gasteig im Rahmen einer Vortragsreihe „Individualpsychologie in München" vorgestellt und begleiteten eine Alfred-Adler-Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek und der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie. In München verknüpft sich Individualpsychologie mit Traditionssträngen aus der Vorkriegszeit. Die kognitive, verhaltensorientierte Einfärbung, welche die Individualpsychologie in Deutschland durch den Einfluß der Schule um Rudolf Dreikurs in den Nachkriegsjahren gelegentlich annahm, kam hier wenig zur Geltung. Da die Therapie und die Therapieausbildung am Münchner Alfred-Adler-Institut durch Elisabeth Böning und Rolf Schellack von Anfang an stark mit der Integration der Psychotherapie in die kassenärztliche Versorgung verknüpft waren, wurde intensiv an der Ausgestaltung der analytischen Psychotherapie gearbeitet. Beider Verdienst für die Entfaltung der Individualpsychologie in München ist unschätzbar. Ihrem Forscherdrang und ihren Anregungen verdanken wir auch die Offenheit für Gedankengut aus der Neopsychoanalyse, vor allem aber auch aus der analytischen Psychologie C. G. Jungs, der Daseinsanalyse und anthropologischen Medizin.

Erwin Ringel vertritt in eindrucksvoller Weise diese Verbindung von Tradition und Offenheit. Hinzu kommt sein unermüdliches gesellschaftspolitisches Engagement, das uns als ein Vermächtnis Alfred Adlers unverzichtbar ist. Im Vorwort zu „Praxis und Theorie der Individualpsychologie" weist Adler auf die verheerende Wirkung der Machtillusion in Wissenschaft und Politik hin. Er äußert aber auch die Befürchtung, daß seinem therapeutischen Grundsatz der Ganzheit und der mitmenschlichen Verbundenheit vielleicht noch mehr Widerstand entgegen gebracht werde als der Analyse des neurotischen Machtwillens im Leben des Einzelnen und in der Gesellschaft. Unsere Beiträge aus der „Praxis und Theorie der Individualpsychologie heute" möchten auch an diesen Wink Alfred Adlers erinnern.

München, am 9. 4. 1992 Karl Heinz Witte

 

Inhalt

    Vorwort ....................................... 9

    Erwin Ringel
    Individualpsychologie - eine Psychotherapie des Einzelnen oder der Gesellschaft? 11

    Matthias Obereisenbuchner
    Freiheit und Ohnmacht
    Der Mensch als Konstrukteur seiner Welt bei Alfred Adler 23

    Hermann Hellgardt
    Gedanken und Geschichten zur individualpsychologischen Therapie und Selbstbesinnung 36

    Karl Heinz Witte
    Das arme Ich-bin-ich
    Die Analyse des Ichs in der individualpsychologischen Therapie 47

    Gisela Eife
    Der Racheengel
    Differentialdiagnostische und finalanalytische Überlegungen zu
    einer Patientin mit Angstneurose 60

    Dagmar Peric
    Wo die Sprache aufhört
    Erfahrungen beim Schweigen in der Psychotherapie 71

    Ulrike Gießner
    Die Spannung zwischen Selbstvertrauen und Zweifel als ein Aspekt individualpsychologischen Neurosenverständnisses 76

    Anne-Els Stadler
    Schuldgefühle im Dienste des persönlichen Machtstrebens 84

    Anne-Els Stadler
    Die analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der Individualpsychologie 94

    Carola Ammon
    Ein Traum aus der Adlerperspektive
    Überlegungen zur Initialphase der Therapie mit einer Jugendlichen 103

    Heide Bade
    Der Traum von der Brücke
    Zur Arbeit mit Träumen in der Kindertherapie 112

    Christa von Treuberg
    Comicfiguren
    Identifikationen zum Ausprobieren und Wegwerfen 123

    Karin Müller-Römer
    „Das Böse ist böse, weil ich es bin"
    Organminderwertigkeit eines achtjährigen Jungen und ihre Kompensation
    Geschichten und Skizzen aus einer Kindertherapie 134

    Ute Fahr
    Psychotherapeutische Arbeit mit Heimkindern
    Möglichkeiten und Grenzen der tiefenpsychologischen Behandlung,
    dargestellt an einigen Fallbeispielen 145

    Karin Heidenreich
    „Nicht ohne meine Schwester ... "
    Geschwister in der Kindertherapie - auch ein Weg zur Ganzheit 157

    Literaturverzeichnis 166

    Personen- und Sachverzeichnis 170