Karl Heinz Witte
St.-Anna-Platz 1
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Aus dem Irrgarten des alltäglichen Machtstrebens:
die Neurose
[1]

I. Das gottgleiche Subjekt

Meine Absicht ist es, Wesenszüge des neurotischen und des alltäglichen Machtstrebens zu vergleichen. Meine These ist: Das Streben, welches die Neurose beherrscht, und die Zielsetzung, die das neuzeitliche wissenschaftliche Denken kennzeichnet, sind identisch. Ich enthalte mich bei der Kennzeichnung des neuzeitlichen Denkens der theoretischen Erörterung.[2] Ich will vielmehr eingangs veranschaulichen, wie der Mann, der das Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft gültig formuliert hat, René Descartes, persönlich an seine Aufgabe herangeht:

1. "Umsturz der Meinungen"

"Schon vor langer Zeit habe ich bemerkt, daß ich viel Falsches in meinen jungen Jahren als wahr zugelassen habe. So ist, was ich darauf gebaut habe, unsicher und schwankend. Schon oft habe ich mir vorgenommen, einmal im Leben müßte alles von Grund auf umgestürzt und von den ersten Fundamenten an neu aufgebaut werden. Da mir das Werk des Umsturzes meiner Meinungen so ungeheuer erschien, habe ich immer gezögert. Es schien mir noch nicht an der Zeit, ich schien mir noch nicht reif zu sein für eine so ungeheure Aufgabe" (Descartes 1956).

Hier spricht ein Mann eine Grunderfahrung des menschlichen Lebens aus: Mitten auf unserem Lebensweg, wieder und wieder faßt uns der Zweifel an: Gehe ich vielleicht in die Irre? Wir bilden in unserer Jugend Annahmen, Meinungen aus, und auf deren Grund richten wir uns ein. Wir errichten unseren Lebensplan wie ein Gebäude, in dem Familie, Beruf, gesellschaftliche und politische Bezüge jeweils ihren Raum und Ort haben.

Der Mann spricht von einer Krise. Er erfährt, daß das Gebäude seines erwachsenen, beruflich erfolgreichen, sozial integrierten Lebens unsicher ist. Nicht weil ihm dies und das an gesellschaftlicher Anpassung oder privater Erfüllung fehlt, sondern weil die Fundamente seines Lebensgebäudes selbst schwanken.

2. Sich selbst verändern

Eine heikle Situation. Er sucht einen Weg zur Selbstbesinnung, zur Revision seiner Überzeugungen. Er nennt, was er sich vornimmt, den Umsturz seiner Meinungen. In einer solchen Situation beginnt mancher heute eine Psychotherapie. Andere wechseln den Beruf, die politische Richtung oder wenden sich alternativen Lebensformen zu. Wir wollen uns ändern, sei es durch Psychotherapie oder sonstwie.

Wie steht einer, der sich ändern will, zu sich selbst? Er tritt sich gegenüber. Er will, was er schon aufgebaut hat, von neuem und besser errichten. Er sieht sich in seiner Lebensgeschichte. Was heißt das? Wenn ich zurückblicke und meine vergangenen Taten und Überzeugungen als falsch oder richtig beurteile, mit dem Gedanken, ich könnte das Falsche von mir abtrennen und das Richtige von nun an an die Stelle des Falschen setzen, so nehme ich einzelne Stationen, Entscheidungen, Ereignisse "objektiv", d.h. losgelöst von meinem je-weiligen Einssein. Und sollten sie mich noch beeinflussen, so muß das ein Ende haben. Oder kann ich etwa stolz darauf sein? Was davon kann man rückgängig machen? Was kann man wiederbeleben, um es zu besitzen? Wieviel Spielraum bleibt mir noch? Was in meinem Leben ist starr, was flexibel, was ist der Einsicht und Veränderung überhaupt zugänglich, und was ist von mir bewußt gestaltbar?

Wenn ich so frage, liegt mein Leben in einem geistigen Raum vor mir. In diesem sind die Gedanken, Lebenstaten, Meinungen aufgehoben. Sie stehen in der Welt als Werke, als Gebilde, als Zeug, als Überzeugung, als Tat oder Versäumnis, zum Gebrauch und Genuß oder als Manko und Schandmal. Sie sind in die Vergangenheit eingeräumt wie in eine Rumpelkammer meines Gedächtnisses, wo sie hervorgeholt werden, Kulissen, Requisiten, Wegmarken. In dieser Rumpelkammer meiner Vergangenheit bewege ich mich: ein Punkt in der Zeitstrecke, ein wanderndes Irrlicht, eine Monade, die in Beziehungen steht, zu anderen und zu mir selbst.

Aber was heißt das, Beziehung zu anderen oder zu mir selbst? Es ist, wenn wir der Alltagsmeinung folgen, eine Beziehung zu den Gegenständen meiner Erfahrung, zu den Vorstellungsbildern meiner selbst, die mich repräsentieren, oder zu den vorgestellten Teilobjekten, welche den jeweiligen Mitmenschen repräsentieren. Wir sind bei den nebelhaften und zungenbrecherischen "Selbst-" bzw. "Objektrepräsentanzen" der neueren Psychoanalyse, die im Frühstadium offenbar verschmolzen sind und dann "Selbst-Objekt-Repräsentanzen" heißen (Überblick z.B. bei Blanck 1978). Wir bemerken: Diese Sprachungetüme entspringen keineswegs einer Sprachschlamperei oder einem Manierismus, sondern ent-sprechen exakt dem maßgebenden neuzeitlichen Denken.

3. Descartes oder das gottähnliche Ich

René Descartes, der hier als Prototyp dessen gewählt wurde, der die Revision seines Lebensgebäudes aufnehmen will, hat uns eines der Grundbücher der Neuzeit hinterlassen: 'Meditationes de prima philosophia' (Descartes 1956). In ihm wurde philosophisch begriffen, was in seiner Lebenszeit sichtbar hervortreten konnte und dann die Generationen nach ihm bis heute prägte: eine bestimmte Stellung des Menschen zur Welt und zu sich selbst. Descartes stellt sich seiner Erfahrung. Er nimmt sich in seiner Erfahrung der Ungewißheit, des Schwankens und Zweifelns ernst, und, so möchte man sagen, er übernimmt die Verantwortung.

"Ich dachte, eine spätere Zeit würde größere Reife und Ruhe bringen, doch könnte ich, meine ich nun, an meiner Aufgabe und an mir selbst schuldig werden, wenn ich noch weiter zuwarten und die mir verbliebene Zeit vertun würde. So habe ich mich also allein zurückgezogen, habe für hinreichende Muße, Feder, Tinte und Papier gesorgt, so werde ich denn die Zeit nützen, ans Werk gehen, den Umsturz meiner Meinungen, so wie ich es am besten kann, in Angriff nehmen" (Descartes 1956).

Hier nimmt sich einer wie eine technische Apparatur in die Mache.  Wie das Reparieren durchgelaufener Schuhsohlen, wie die Generalüberholung eines Pkw nimmt hier einer die Reparatur, die Neukonstruktion seines ganzen Lebens in Angriff.

Die Einrichtung unseres Lebens erscheint wie eine Leistung, vielleicht als eine schöpferisch-künstlerische Leistung. Ich bin mir selbst, meinem Leib, meinen Gefühlen, meinen Ideen und Überzeugungen, meinem Lebensweg, meinem Beruf, meinen Lebenspartnern gegenüber ein Techniker, ein Werkmann. Die Wörter "Bildung und Erziehung" lassen diesen technischen Sinn noch mitklingen. Heute benützt man lieber die begrifflichen Windeier "Konditionierung, Sozialisation und Personalisation". Diese Wörter verschleiern zwar die Rolle des Machers. Diese wird anonymen Instanzen zugeschrieben. Die neue Begriffsbildung stellt aber um so deutlicher die Formung und Formbarkeit der Menschenmasse in den Blick.

Zum Werk des Werkmanns gehört eine Sache, die hergestellt wird: eine angesehene Persönlichkeit. Zum Werk gehört der Lohn, der dafür bezahlt wird: man ist ja eine gut ausgebildete Fachkraft. Dazu gehört auch die Befriedigung über den Wert: der Eltern- oder Lehrerstolz über die "gelungenen" Kinder. Und darin klingt auch die Machtlust mit: "Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei: zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich - und dein (nl. Zeus) nicht zu achten, wie ich." Goethes 'Prometheus', den ich da zitiere, holt ja nur in die Macht des Menschen, was ursprünglich Gottes Werk gewesen sein soll: "Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis" (Gen 1,26). "Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,32). Dann aber "reute es" ihn, und er ließ die Sintflut kommen (Gen 6,6-8); denn das Geschöpf erwies sich als mißraten wie so oft die Kinder, wenn sie dem pädagogischen Narzißmus nicht mehr genugtun.

Das Denkmuster, nach dem Descartes und überhaupt der neuzeitliche Mensch sich selbst sieht, ist die Vor-Stellung, das Vor-sich-Hinstellen und Herstellen. Es spiegelt sich darin das Bild des Schöpfergottes, der nach seiner Idee den Menschen formt. Das Ich in seiner Gottähnlichkeit bildet, verändert, tadelt und bewundert den Menschen aus Fleisch und Blut, der ich selber bin. Es gibt auch Wissenschaften vom Menschen, die ihn so objektiv, als Sache nehmen, ihm Selbstsicherheit, Lebenserfolg, Symptomfreiheit auf wissenschaftlich gesichertem Wege versprechen. Manche dieser Psychotechniken nennen sich auch Psychotherapie.

Aber welcher Weg ist denn zweifelsfrei sicher? Ein einzelner Mensch, der sich dasselbe vornehmen würde, was ihm Wissenschaft, Technik und Versicherungswesen als möglich und erstrebenswert vorgaukeln, hätte eine schlimme Zwangsneurose, wenn nicht eine Psychose.

II. Die Neurosenlehre

1. Adlers Kritik an Freud

Hier soll für die theoretisch Interessierten nur kurz und schlagwortartig Adlers Position im Verhältnis zu Freuds Psychoanalyse skizziert werden. In den Vorträgen (Adler 1911/1973), die zu Adlers Trennung von von Freud geführt haben, spitzt er seine Kritik auf den folgenden Punkt zu: Er wolle nicht nach dem Wesen und Wirken der Verdrängung fragen, das sei durch Freuds Arbeit bekannt. Er frage: Aus welchem Grunde verdrängen wir unsere Triebregungen, und gibt es nicht außer der Verdrängung andere Ursachen und Wege der Neurose? Seine Antwort: Der Grund für die Verdrängung und allgemein für die Entwicklung neurotischer Symptome liege in den Ansprüchen des "irritierten" Ichs auf Sicherheit, Geltung und Macht. Freuds Kommentar dazu war stets, Adler habe den Anstoß zu einer Untersuchung der Ichtriebe gegeben. Dazu sei es aber noch nicht an der Zeit. Zuvor müsse die Libido studiert werden, deren beherrschende Rolle im Aufbau der Psyche von Adler verleugnet würde (Freud 1914). Erst nach dem Weggang Adlers liefert Freud drei neue und wesentliche Konzepte zur Analyse des Ichs (Freud 1975).

Ich stelle die begrifflichen Konzepte und Stationen der Theorie kurz nebeneinander: Freud hat mit Breuer zusammen die Wirkung der sexuellen Traumata entdeckt. Adler betont demgegenüber umfassender die frühkindliche Mangellage. Freud hat dann die Wirkung der unbewußten Phantasien und der Triebdynamik studiert. Adler betonte demgegenüber die beherrschende Rolle des fiktiven Persönlichkeitsideals. Mit der Einführung des Narzißmus, insbesondere mit dem Konzept des Ichideals trug Freud, wie er wußte (s. Freud / Andreas-Salomé 1966), dieser Position Adlers Rechnung. Als Rückschritt ist in Adlers Sicht die Rückbindung des Ichideals an die Libido zu betrachten. Hier ist die moderne Narzißmusforschung zweifellos weitergekommen. Die Konflikttheorie Freuds (Es-Ich-Überich) lenkte die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Abwehr- oder Sicherungsvorgänge in der Psyche, die Adler seit seiner Trennung von Freud postuliert hatte.

Alles in allem scheint es so, als ob die Psychoanalyse die voreiligen Hypothesen Adlers aufgegriffen und gründlicher fundiert hätte. Für manche Bereiche stimmt das, aber nicht für den Grundansatz der Individualpsychologie. Dieser liegt in der Lehre von der Finalität und der Fiktionalität. Man kann die gemeinsame Position vielleicht so bestimmen: Die Neurose ist nicht das Trauma und nicht der Mangel, sie ist auch nicht die Triebfixierung, sondern eine krankhafte Abwehrorganisation bzw. eine Sicherungstendenz. Bei gravierenden frühen Mangellagen wird die gesamte Persönlichkeitsbildung von der Abwehrorganisation durchherrscht. Die Persönlichkeit ist dann sozusagen nur Abwehr. Adler sprach vom "Nervösen Charakter", heute spricht man von "Strukturdefekten" oder von einer "pathologischen Persönlichkeitsorganisation" (Kernberg 1978 u. 1981).

2. Adlers Neurosenlehre

Die Hauptthese Adlers lautet: Die Neurose liegt in einer fiktiven persönlichen Zielsetzung, in einem irrealen Persönlichkeitsideal ("Ichideal", "Größenselbst"), das der Abwehr fundamentaler Minderwertigkeitsgefühle dient. Wie sieht so ein fiktives Persönlichkeitsideal aus, und ist es wirklich so neurotisierend?

Ist es den Eltern etwa nicht zu wünschen, daß ihr Kind gesund, geschickt, intelligent ist. Es soll aber auch tierlieb sein, Freunde haben, sich allein sinnvoll beschäftigen können, kleine Aufgaben im Hause wahrnehmen und in der Schule vorankommen. Unser Kind hat ein heiteres Gemüt, ist klug, doch nicht altklug, ganz ungezwungen und hat doch gute Manieren. Auch die kreativen Kräfte werden nicht vernachlässigt; dafür tanzt es, malt und spielt ein Instrument. Damit es Durchsetzungsvermögen lernt, geht es in einen Sportverein oder in einen Karateclub.

Aber: Was spielt uns denn nun eigentlich jenen Streich, der uns scheitern läßt, wenn wir diese Ziele bei unseren Kindern oder bei uns selbst erreichen wollen? Hier ein paar gängige Mutmaßungen: Ist es die chaotische, ungezähmte, primitive Natur? Sind es die mißglückten Sublimationsbemühungen? Ist es die mangelnde pädagogische Förderung? Fehlt die hinreichend gute Bemutterung, die optimale Frustration, das bedingungslose Angenommensein oder die strenge Hand des Vaters?

Auf diese Fragen bietet Adler keine Antwort, die dazu dienen könnte, die scheiternden Erziehungs- und Selbsterziehungsbemühungen zu verbessern. Zunächst einmal bietet er nur eine Erklärung des Scheiterns selbst. Das Feld, in dem diese Erklärung zu suchen ist, liegt allerdings ganz woanders als in den Fragen angedeutet. Die Wurzel des Übels liegt für Adler nicht in dem, was die Erreichung des Zieles verhindert, sondern in dem Ziel selbst und in der Vorstellung von dem, was helfen könnte.

Mit anderen Worten: Wir müssen scheitern, wenn wir daran festhalten, unser Erziehungs- und Persönlichkeitsziel erreichen zu wollen. Dieses Streben ist aussichtslos, führt, wenn es unbeirrt festgehalten wird, in die Verzweiflung, zum Versagen im sozialen und privaten Lebensfeld, letztlich zur Selbstzerstörung. Damit sind wir im Kern von Adlers Neurosenlehre. Er faßt diesen Gedanken in folgende Begriffe: Das Kind, dem die ursprünglichen körperlichen und seelischen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, sucht einen Ausgleich dieser Mangelerfahrung durch "psychisches Können" (Adler 1912). Zweifellos können wir ja das eine oder andere, sogar auf den Mond fliegen können wir. Das ist nicht gemeint. Die Anstrengung des "psychischen Könnens", die für die Neurose kennzeichnend ist, bezieht sich auf die Wertsteigerung des Ichs. Ich will etwas können, um nicht wertlos zu sein. Nun ist die entscheidende Frage: Wessen kann ich grundsätzlich nie sicher oder mächtig sein? Was innerhalb des "Psychischen" unterliegt nicht meinem Streben? Was kann seinem Wesen nach nie zur Wertsteigerung beitragen? Mit anderen Worten: Wo muß jedes Könnenwollen scheitern?

Eine Anstrengung in einem Bereich, in dem das Könnenwollen nicht weiterhilft, ist zum Scheitern verurteilt. Aber: Auswegloses Streben als Versuch der Selbstheilung von fundamentalen Ängsten und Wertlosigkeitsempfindungen: das ist die innere Dynamik der Neurose.

Das Prinzip der psychischen Kompensation konstitutioneller und sozial-emotionaler Mängel trägt bei Adler verschiedene Namen: Aggressionstrieb, Männlicher Protest, Wille zur Macht, Machtstreben, Gottähnlichkeitsstreben, Überlegenheitsstreben, Überwindungsstreben, Vollkommenheitsstreben. Diese verschiedenen Bezeichnungen deuten auf unterschiedliche Färbungen oder Erscheinungsweisen hin. Das ursprünglichen Phänomen, in dem sie alle wurzeln, ist der Wille zur Macht. Im allgemeinen denkt man beim Wort Macht an den Einfluß auf den Willen anderer, an Rüstungspotential und Wirtschaftsmacht oder an narzißtische Größen- und Allmachtsphantasien. Adler versteht mit Nietzsche (hrsg. v. Schlechta, Bd. 3, 673ff.) Macht als unbedingtes und unwidersprochenes Befehlen, also als absolutes Herrsein, vor allem über sich selbst. Wille zur Macht ist demnach Herrseinwollen und Könnenwollen.

Ich will können, das ist das formale Prinzip der Selbst- und Weltgestaltung. Aber was will ich denn inhaltlich können? Worauf zielt der Wille zur Macht? Auf Geltung, die bestimmt ist durch Werte. Diese Werte als Richtschnur meines Strebens sind zusammengefaßt im Persönlichkeitsideal, das mir durch die Wertqualitäten meiner Umgebung, der familiären Identifikationsfiguren und darüber hinaus durch die kulturellen Wertsysteme vorgelebt wird.

Die Strebungen und Ideale, die im "Überich" wirken, nötigen das Individuum zur Veränderung der Realität, auch der inneren. Alle "Abwehrmechanismen" und neurotischen Konfliktlösungsmodi sind von diesem Zwang zur Wertung verursacht. Daraus ergibt sich als Konsequenz, daß die Analyse der "Überichstrukturen" bzw. der "narzißtischen" Werttendenzen die Untersuchung der "Triebschicksale" selbstverständlich nicht unnötig macht, sondern voraussetzt und sie weiterführt. Es sei hier auch noch angemerkt, daß es sich nicht um kognitive, sondern um "unbewußte" Überich-Konstellationen und Zielsetzungen handelt. Freilich verzerren diese Begriffe den Blick auf die Sache und stehen einer gründlichen Phänomenanalyse eher im Wege.

III. Das alltägliche Machtstreben und die Neurose

1. Narzißmus

Wenn ich im folgenden von Neurose spreche, beziehe ich mich vor allem auf deren "narzißtische" Dimensionen. Das entscheidende Kennzeichen in der Psychodynamik des Narzißmus ist in individualpsychologischer Sicht, daß der Wille zur Macht sich derjenigen Dimensionen des Menschseins zu bemächtigen versucht, die jedem Könnenwollen grundsätzlich verschlossen sind.

Wie zeigt sich diese Machtkomponente in der Entstehung und Entfaltung der Neurose?

Sie setzt in der Phase erster, keimhafter Ichbildung ein. Eine hinlängliche perinatale und symbiotische Entwicklung, wie sie z.B. von Mahler (1978) geschildert worden ist, muß vorausgesetzt werden. Schäden und spezifische Mängel in diesen Entwicklungsabschnitten prägen und färben die Persönlichkeitsentwicklung erheblich, können auch zu gravierenden Persönlichkeitsstörungen führen; aber das spezifisch Neurotische, dem wir uns in der analytischen Psychotherapie widmen, wird erst mit einer vom Ich zentral gesteuerten Sicherungs- oder Kompensationsorganisation begründet. Die moderne Psychoanalyse, sei sie Ich- bzw. Selbstpsychologie (Blanck 1978; Kohut 1974) oder Theorie der primären Objektbeziehungen (Kernberg 1981), beschreibt die sich in den Phasen der Ichorganisation (Differenzierung, Übung, Wiederannäherung) ausbildenden Strukturen, die Selbstrepräsentanzen und Objektrepräsentanzen samt den dazugehörigen Introjektbildungen. Sie geht dabei von einer nicht exakt bestimmten gesunden Norm aus, der gegenüber die Defekte, Strukturmängel und Verformungen als neurotisch oder borderline-typisch abstechen (Zum Überblick: Blanck 1978; Mentzos 1984). Das ist alles sehr hilfreich; aber es wird von unserer individualpsychologischen Sicht dabei eines übersehen, was uns wesentlich ist.]

Die für die Entstehung der Neurose wie allgemein für die Charakterbildung entscheidende Phase ist die "Ichfindung" (Adler 1912). In dieser Phase wird ein ganz besonderer Bezug des Individuums zur Welt gestiftet: mit Adlers Worten der finale und fiktionale Bezug. Was heißt das? Es wird ein Bild davon entworfen, wie die Persönlichkeit sein sollte. Darin ist enthalten: es handelt sich um eine bloße Vorstellung, nicht um Wahrnehmung; diese Vorstellung wird zum Ziel der Entwicklung. Aus dem Gesichtskreis des Willens zur Macht läßt sich dasselbe auch so formulieren: In diesem Lebensabschnitt bilden sich zwei Grundtätigkeiten des Ichs aus: das Werten und das Könnenwollen (das natürlich auch ein Könnensollen ist).

2. Leistungsstreben als Könnenwollen

Eine Kindheitserinnerung: "Es ist Ostern. Ich eile unter der gespannten Aufmerksamkeit meiner Eltern in der Wohnung umher und entdecke sogar die besonders listig versteckten Ostereier. Es herrscht eine Stimmung der Begeisterung, wie schlau und einfallsreich ich es anstellen kann." Das klingt wie eine schöne, unbelastete, gewiß nicht neurotische Erinnerung. Wünschen wir unsern Kindern nicht solche Erfolgserlebnisse und die dazu gehörige Bestätigung oder sogar die gebührende Bewunderung? Die halbe Erziehung und beinahe die ganze Schulpädagogik sind auf diesem Prinzip aufgebaut, und eine gewisse Lerntheorie verbraucht Millionen, um solche Vorgänge zu erforschen.

Worin liegt das Neurotische? Hier wird ein fiktives (narzißtisches) Selbstwertgefühl erzeugt, das sich auf drei falsche Annahmen stützt:

1. wird das Wesen des schöpferischen Findens falsch eingeschätzt; dieses ist nämlich ein Ereignis und keine Könnensleistung.

2. wird die Aufmerksamkeit auf den Wert einer Handlung gelenkt. (Das Suchen und Finden bringt etwas: jetzt umittelbar Bewunderung, später gute Noten, ein sicheres Einkommen, früher einen Platz im Himmel). Was ich tue, mag in sich so sinn- und wertlos sein wie ein Fetzen Papier; aber ich kann mir etwas dafür kaufen. Nur auf Grund eines solchen Mechanismus ist es möglich, daß beispielsweise ein Manager der Kriegsmaschinerie stolz auf seine Leistung ist.

3. Das so begründete Selbstwertgefühl stützt sich nicht auf eine Selbstwahrnehmung, es ist kein Gefühl für mich selbst. Mein Selbstwert liegt vielmehr in dem Wert, den ich oder mein Tun für die narzißtischen Bedürfnisse der Eltern haben: daß die sich über mich freuen können. Nur so ist es denkbar, daß ein braver Bürger als Folterknecht über seine Pflichterfüllung Genugtuung empfinden kann. Diese Folterknechte gibt es (in milderen Varianten) bekanntlich in allen Institutionen, die Menschen behandeln.

Was geschieht, wenn das schöpferische Finden als Beweis des Könnens angesehen wird? Eine solche Fehleinschätzung muß zu Leistungsstörungen führen. Manches Schulkind wird bemerken, daß sein Könnenwollen bei der Lösung von Mathematikaufgaben scheitert. Wenn es gesund reagiert, wird es sagen: "Ich mag nicht mehr." Man nennt es dann Leistungsverweigerer. Allerdings weiß das arme Kind nicht, warum es scheitern muß. Es meint, daß es sich zu wenig anstrengt. Das sagen auch die Pädagogen. Dieser Glaube führt allerdings zu nichts anderem als zu Schuldgefühlen. Doch die nimmt man noch lieber in Kauf als den Verzicht auf die Könnensillusion, auf die besonders die Pädagogen angewiesen sind. Ein Ausweg aus der Sackgasse ist: Das Kind ist einfach zu dumm. Das kann ja sein. Doch das Problem ist damit nicht vom Tisch: Wie kommt eigentlich ein intelligentes Kind zu schöpferischen Problemlösungen? Durch Anstrengung und Entfaltung seines Könnens? Manche glauben es, kriegen mächtiges Lob dafür und gute Noten. Weit verbreitet ist allerdings bei solchen erfolgreichen und prämiierten Schülern das Gefühl: im Grunde ist alles Schwindel. Und damit haben sie recht.

3. Grundphänomene, um die sich die Neurose sorgt

Hinter allen neurotischen Ängsten und Problemen stehen menschliche Grundängste und ursprüngliche Befindlichkeiten. Die sogenannte Neurose ist nur ein Versuch, vielleicht ein allgegenwärtiger, wahrscheinlich ein stets scheiternder Versuch, das ungesicherte Menschsein selbst in den Griff zu bekommen. Ich zähle einige Grundphänomene auf; bezeichne sie aber nicht begrifflich, sondern versuche nur, sie umgangsprachlich zu umschreiben: 1. das individuelle Leben selbst im umfassendsten Sinne; 2. Halt, Geborgenheit, Urvertrauen; 3. Stimmung, Selbsterleben, Selbstwertgefühl; 4. Wirken, Tätigsein, Leisten; 5. Gemeinschaft, Identität, Austausch Verstehen und Verstandenwerden (s. a. Hellgardt 1982). Die Störung, die in der oben zitierten Kindheitserinnerung aufscheint, liegt in dem relativ hoch differenzierten Bereich des Leistens, in der Intention auf Erfolg und Ansehen. Darunter liegen noch andere Belastungen. Die elementaren Problem- und Entwicklungsfelder stehen sämtlich in Bezug zueinander; ähnliche Lebensstilmuster bzw. Sicherungs- oder Bewältigungsstrukturen kehren wieder. Wie Kohut (1974) es ausdrückt: Sie sind wie die Teile eines Teleskops ineinander geschoben. Mir kommt es hier auf die Weise an, in der die Herausforderungen jedes Problembereichs uns ansprechen: Wie sichern wir das Leben? Wie finden wir Geborgenheit? Können wir unser Selbsterleben, unser Selbstwertgefühl positiv stabilisieren?

Alle diese Grundbezüge des Menschen sind dem Könnenwollen nicht verfügbar. Sie sind aber zugleich nicht dem Einfluß des Ichs völlig entzogen. Sie erschließen sich nur, wenn wir in unvoreingenommener Aufmerksamkeit, in wacher Bereitschaft, in "zuvorkommender Zurückhaltung" (Heidegger 1959, 32f.), in "zärtlichem" (Padrutt 1984) Mitschwingen offen sind für das, was uns geschieht, was sich ereignet. Dadurch entsteht jene Spannung, die das gehobene Lebensgefühl durchstimmt und die die Freude am Dasein, die Einstimmung ins Ganze, das Gelingen eines Werkes, die Gemeinschaft im Austausch möglich macht. Alle diese Erfahrungen sind jedoch stets bedroht vom Entzug, von verschiedenen Abtönungen bis ins Leere oder Dissonante hinein. Die Wirkweise, die Bedingungen und Hemmnisse solcher Grunderfahrungen sind unserem kollektiven Alltagsbewußtsein wie auch dem forschenden Zugriff der Humanwissenschaften weitgehend unbekannt. Ja sowohl das alltägliche wie das wissenschaftliche Forschen kehren sich sogar ausdrücklich von diesen Grunderfahrungen ab. Und damit geschieht im kollektiven Bewußtsein dasselbe, was auch die Neurose des Individuums begründet. Wir sehen ab vom Ereignishaften des Seins und kehren uns den machbaren Machenschaften und den Beweisen unseres Könnens zu.

4. Scheitern des Liebesstrebens

Ein anderes Beispiel: "Als ich zur Welt kam, fing der Streit meiner Mutter mit meinem Vater gerade an. Meine Mutter sagte, sie hätte es damals nur ausgehalten, weil ich so entzückend war. Ich hätte immer gelacht. Ich war lustig, habe schon im Krabbelalter mit meiner gleichaltrigen Kusine gespielt. Ich habe früh gesprochen, konnte so witzige Bemerkungen machen, daß alle darüber gelacht haben. Dann, als ich in die Schule kam, hat alles aufgehört. Ich wurde verschlossen, traurig und hatte keine Freundin. In einem Brief hat meine Mutter geschrieben: Die Lösung deiner Probleme ist ganz einfach: sich mehr um die anderen kümmern als um die eigenen Sorgen, die Schwierigkeiten mit Humor nehmen, sich an den kleinen Dingen des Lebens freuen, sich manchmal schön anziehen, ausgehen, tanzen, mit anderen Ausflüge machen." Zweifellos schlägt die Mutter hier wertvolle Lebenseinstellungen vor, allerdings ist es genau das, was die Tochter gerade nicht kann. Dabei ist sie doch beherrscht davon, genau das können zu wollen.

Sie schildert ihre Sehnsucht: Sie ist erfüllt von der Vorstellung eines Sonnenuntergangs. Sie sieht sich auf einer Sanddüne sitzen, einen Freund bei ihr, der sie nur leicht mit den Fingerspitzen berührt, dann lange mit ihr gemeinsam in die Weite schaut, nichts sagt, und doch empfindet, was sie selbst nicht aussprechen kann. Er erhebt sich und springt wie im Flug auf, breitet die Arme aus, überschlägt sich im Sprung und fängt sich kugelnd am Fuß der Sanddüne. Es ist ein stummer Schrei des Entzückens in der Weite des Sandstrands vor dem Meer.

Spricht sich hier eine tiefe Sehnsucht aus, oder ist es der Prospekt eines Mittelmeer-Ferienclubs? Ich stelle diese Frage ohne jede Ironie. Ich möchte die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß hier zwei Grundeinstellungen haarscharf nebeneinander liegen: Die ereignishafte Einstimmung in ein Sein voll Freude und Fülle liegt unmittelbar neben einer im Bild vorgestellten, dingfest gemachten käuflichen Glücksidylle. Die oben zitierten Erwartungen der Mutter, nach denen die Tochter zu leben versucht, selbst wenn sie sich dagegen wehrt, zielen auf ein solches hochwertiges, erstrebenswertes Erleben hin, das in ein fiktives Persönlichkeitsideal mündet: Wenn ich so wäre, könnte ich lieben und geliebt werden.

Sie berichtet vom Ende ihrer Verliebtheit: "Als wir nebeneinander saßen, war er mir fremd. Ich suchte nach einem Wort, ich sah immer nur mich selbst in meiner Unförmigkeit. Ich war getrennt von ihm und mir, ausgesperrt durch eine Empfindung der Leere, durch ein Nichts, was zwischen uns trat und mir sagte: So nicht, Renate. Es gibt nichts, was ich tun oder sagen könnte. In mir ist kein Gefühl mehr. Keine Freude, keine Liebe, keine Neugier, nichts als das steife, brüchig-wortlose Nebendran-Sitzen und Warten, daß ich was sagen kann."

5. Werten oder Wahrnehmen?

Die hier mitgeteilte Erfahrung der Leere kommt aus einer Ohnmacht, genauer: aus einem Scheitern des Strebens. Die Liebe wie auch das Ergriffen- und Erfülltsein in einem glücklichen Augenblick tun sich uns auf, wenn wir dafür offen sind. Solche Erfahrungen machen, bewahren, erzielen oder gar durch Erziehung ermöglichen zu wollen, ist so absurd wie das Unternehmen der Schildbürger, die das Sonnenlicht mit Säcken in ihr fensterloses Rathaus schleppen wollten. Nun machen die narzißtischen Kinder und überhaupt wir hilflosen Neurotiker das ja nicht aus böser Absicht. Wir sind nur einer kollektiven Einstellung verfallen, die uns glauben macht, wir seien unseres Glückes Schmiede, wir würden geliebt, wenn wir liebenswert sind, wir wären erfolgreich, wenn wir uns nur richtig anstellen und anstrengen würden usw. Besonders schwer zu durchschauen sind solche Irrmeinungen deshalb, weil wir ja tatsächlich im Wirtschafts- und Berufsleben, in Politik und Nachbarschaft mit unsern Statussymbolen und dem Potenz- und Imponierritual mächtig Eindruck machen können. Man kann auf den Mond fliegen und ein ganzes Volk manipulieren. Aber bei all dem, worum es den Ratsuchenden in einer Psychotherapie - unterhalb der Symptomebene - geht, gibt es kein Knowhow und ist nichts zu manipulieren.

Ich will nochmals auf das Problem des Narzißmus zurückkommen. Als seine Entstehungsbedingung werden z. B. genannt: mangelnde Spiegelung, Enttäuschung über ein idealisiertes Selbstobjekt, frühe Kränkungen, Verzärtelung. Ich glaube, daß das alles zum Nährboden des Narzißmus gehört, aber nicht den Ausschlag gibt. Nach meiner Ansicht entsteht die Neurose, wenn die Zuwendung der Eltern, insbesondere der Mutter, zu den Kindern erfüllt ist von Wertschätzung und Bewunderung des Könnens. Kinder wollen nicht wertvoll oder bewundert sein, sondern wahrgenommen werden. Sie wollen nicht anerkannt, sondern erkannt werden. Hier gilt es allerdings genau hinzuschauen: Nicht schlechthin jedes Wertempfinden und nicht das Könnenwollen überhaupt kritisiere ich, sondern jene Wertschätzung und Könnenserwartung, die sich auf das Sein des Menschen selbst beziehen, die das Selbstwertgefühl des Kindes und Erwachsenen begründen sollen.

Ich will den Unterschied an einem bekannten Konzept der Narzißmusforschung verdeutlichen: In der psychoanalytischen Literatur über frühkindliche Entwicklung wird der Mechanismus der Spaltung (Rohde-Dachser 1979) beschrieben. Vereinfacht gesagt: Die Menschen mit einer sogenannten narzißtischen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung können es nicht aushalten, daß die Mutter ihnen gute und böse Seiten zeigt und daß sie selbst gute und böse Eigenschaften haben. Sie spalten jeweils die gute oder die böse Seite in der Wahrnehmung ab und sehen sich oder die Bezugsperson entweder als ganz gut oder als ganz böse. Diese Einschätzungen können natürlich jäh ins Gegenteil umschlagen. Hier wird eine Spaltung beschrieben, die innerhalb des Wertsystems selbst liegt. Eine Spaltung zwischen Gut und Böse ist eine Aufspaltung des Wertens. Die gibt es. Doch meiner Meinung nach ist diese Spaltung 1. allgegenwärtig und für unsere Kultur bestimmend; sie ist nicht beschränkt auf die frühen Persönlichkeitsstörungen, 2. herrscht diese Spaltung nicht nur zwischen Gut und Böse, sondern auch zwischen verschiedenen anderen Wertpolaritäten.

Das ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, daß es neben der Spaltung im Werten, noch eine weitere gibt, die das Werten selbst von einer anderen Weise des Bezogenseins grundsätzlich abhebt. Es ist eine Spaltung, die mitten durch das Wesen des Menschen geht. Die eine Seite davon ist, wie gesagt, die Sorge um Selbstwert und Selbstmacht. Mit diesen Intentionen wenden wir uns den Dingen und Menschen zu, wir bemächtigen uns und bewerten alles und jedes; allem voran uns selbst. Und welche Seite ist davon abgespalten? Die Wahrnehmung dessen, was sich ereignet. Werten oder Wahrnehmen ist hier die Frage.

Wir haben es mit zwei Grundeinstellungen zu tun, die unmittelbar nebeneinander liegen. Dafür den Blick zu schärfen, ist eine notwendige, aber schwierige Aufgabe. Sie ist deshalb so schwierig, weil in dem Beginnen selbst die Gefahr der Verfehlung liegt. Nur wenn man beide kennt und nebeneinander hält, sind sie auch zu unterscheiden. Hier sei nur ein sicher zu kurz greifender Ausblick gewagt, bei dem die folgenden Namen diesen Unterschied vorläufig andeuten  mögen: Auf der einen Seite das Werten, auf der anderen das Wahrnehmen. Jenem geht es um Können, diesem um Lassen, Gelassenheit. Das Werten schätzt und berechnet; das Wahrnehmen stiftet Liebe und Verstehen, aber auch Abwendung und Zorn. Jenes strebt und scheitert; dieses führt zu Einstimmung oder auch Mißstimmung. Jenes begreift; dieses schenkt Ergriffensein. Werten, Können, Rechnen und Streben wollen Sicherheit und Macht; Wahrnehmen, Gelassen- und Ergriffensein stiften Offenheit, Vertrauen und Verbundenheit.

Literatur

Adler, Alfred: Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie (1911), in: Adler, Alfred: Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen, hrsg von Metzger, W., Fischer - TB.6220, Frankfurt 1973

- : Über den nervösen Charakter Grundzüge einer vergleichenden Individual-Psychologie und Psychotherapie. Bergmann, Wiesbaden  1912; (neue Ausg. nach der 4. Aufl. von 1928) hrsg v. Metzger, W., Fischer TB 6174, Frankfurt 1972

Blanck, Gertrude und Rubin: Angewandte Ich-Psychologie, Klett-Cotta, Stuttgart 1978

Descartes, René: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die erste Philosophie, hrsg. von Schröder, E.Ch., Meiner, Hamburg 1956

Freud, Sigmund: Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914). G.W. Bd.10, London

- : Studienausgabe Bd.3: Psychologie des Unbewußten. Fischer, Frankfurt/M.1975

Freud, Sigmund / Andreas-Salomé, Lou: Briefwechsel, hrsg. v. Pfeiffer E., Fischer, Frankfurt/M. 1966

Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Neske, Pfullingen 1959

Hellgardt, Hermann: Grundbegriffe des indivdualpsychologischen Menschenbildes. In: Schmidt, R. (Hrsg.): Die Individualpsychologie Alfred Adlers. Ein Lehrbuch. Kohlhammer, Stuttgart 1982

Kernberg, Otto F.: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1978

- : Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse. Klett-Cotta, Stuttgart 1981

Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Suhrkamp, Frankfurt 1974

Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Schlechta, K., 8. Aufl., Hanser, München 1977

Mahler, Margaret S. u.a.: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Fischer, Frankfurt/M. 1978

Mentzos, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung. Eine Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Fischer-TB 42239, Frankfurt 1984

Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter. Zeitgemäße Betrachtungen. Diogenes, Zürich  1984

Rohde-Dachser, Christa: Das Borderline-Syndrom. Huber, Bern / Stuttgart / Wien 1979

 



[1] Vortrag anläßlich der Tagung des Alfred Adler Instituts e.V. München und des Landesverbands Bayern der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie: "Die Macht, die uns krank macht", München, 20.-22.11.1987

[2] Siehe dazu in diesem Band den Vortrag von Hanspeter Padrutt: "Macht - ein epochales Verhängnis?" und meinen Beitrag zu den Delmenhorster Fortbildungstagen: "Superman oder Kümmerling?`"