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Das arme Ich-bin-ich. Die Analyse des Ichs in der individualpsychologischen TherapieVortrag im Münchner Gasteig am 17. Januar 1992 Karl Heinz WitteZusammenfassung: Das kleine ICH-BIN-ICH: "Denn ich bin, ich weiß
nicht, wer, Einer, der weiß, was das Ich ist: S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, "Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt. [...] Aber nach außen wenigstens scheint das Ich klare und scharfe Grenzlinien zu behaupten." Einer, der es nicht weiß: Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung S.15f.: "Ich werde über etwas sprechen, was ich bereits in meinen Büchern und Aufsätzen usw. beschrieben habe, doch unglücklicherweise vergesse ich immer alles, was ich geschrieben habe, in dem Augenblick, in dem es beendet ist. Das wird vermutlich noch zu einigem Ärger führen. Ich glaube jedoch, daß es auch seine Bedeutung hat, da ich nämlich nicht das Gefühl habe, meine Bücher selbst geschrieben zu haben. Eher habe ich das Gefühl, daß ich eine Durchgangsstelle für meine Bücher bin; sobald sie durch mich hindurchgegangen sind,fühle ich mich leer, und nichts bleibt zurück. [...] Ich habe nie ein Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso [16] Gültiges, ereignet sich anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls." Individualpsychologische Ichanalyse. Ein FallbeispielIch möchte Ihnen einige Gedanken zum Phänomen des Ichs bzw. Selbstes vortragen. Dabei folge ich der Anleitung, die mir durch eine Patientin unbewußt gegeben wurde. Ich stelle zunächst ihr Ausgangsproblem dar, skizziere eine mögliche Diagnose und versuche dann zu zeigen, was wir in der Therapie als Ich- und Selbstproblem der Patientin verstanden haben. Daran knüpfen sich einige theoretische Überlegungen zur Analyse des Ichs in der Individualpsychologie an. Erstinterview
Die Patientin leidet an dem, was Levy-Strauss als seine Erfahrung bezeichnet. Auch ihr Ich könnte in Levy Strauss' Sinn als eine "Straßenkreuzung" betrachtet werden. Aber sie leidet daran. Sie kann die unabgegrenzte Ichidentität zunächst nicht als die eigentümliche, ihrem Selbst wesentliche Erfahrung begreifen. Einige Skizzen und Überlegungen aus den anfänglichen Therapiegesprächen: "Ich glaube, jetzt wird es Zeit, daß ich Hilfe suche. Ich hatte vor ein paar Wochen wieder eine Reaktion wie früher. Das ist entsetzlich. Ich dachte, es wäre vorbei. Ich will es nie mehr haben. Aber ich fürchte, es kommt wieder." Es fällt mir als Zuhörer schwer, mir vorzustellen, was in der Krise, von der die Patientin spricht, vorgefallen ist, wie die Reaktion war, die ihr solches Entsetzen einflößt. Sie gibt bereitwillig Auskunft; aber gleichwohl kann ich mich nur schwer einfühlen. Ich erfahre, daß sie mit einem Freund, mit dem sie meinte, vertraulich reden zu können, beim Essen war. Sie erzählte ihm, daß sie oft von Depression gequält werde und Angst um sich hätte. Er hatte geantwortet, sie brauche doch keine Angst zu haben, sie sei doch eine "Powerfrau". Sie war aus dem Lokal weggeeilt, in größter Qual, in Verzweiflung und dem Wunsch, sich umzubringen. Die Schwierigkeit, mich einzufühlen, liegt darin, daß sie den Ablauf des Gespräches klar wiedergibt, auch ihre Gefühlsreaktionen deutlich benennt. Aber zwischen diesen beiden Ebenen, den Tatsachen und den Gefühlen, liegt eine Kluft. Ich habe den Impuls zu fragen: "Was war denn an dem Satz des Freundes so schlimm?" aber die Signale höchster Empfindlichkeit, welche den Bericht der Patientin begleiten, halten mich zurück. Ich höre eine unausgesprochene Botschaft: "Ich habe Angst, wühle nicht das Entsetzliche in mir auf, sei vorsichtig mit dem Ungeheuren, daß ich nicht auch vor dir in Verzweiflung fliehen muß!" Im weiteren Gesprächsverlauf erfahre ich von dem Vorläufer der gegenwärtigen Krise: Vor etwa 8 Jahren hatte sich Frau P aus Furcht vor den anhaltenden Suiziddrängen und den Depressionen freiwillig in eine psychiatrische Klinik begeben. Die Behandlung hatte sie nach zwei Wochen abgebrochen. Danach hatten sich Wahrnehmungsverzerrungen eingestellt. Es bleibt zunächst unklar, ob es sich um Halluzinationen handelte. Sie sah Dinge und Menschen verzerrt. Das machte ihr größte Angst. In den vergangenen Jahren hatte sich ihr Zustand zunächst einigermaßen stabilisiert; vor einem Jahr war es bei der Trennung von einem Lebensgefährten, der sie sehr verletzt hatte, erneut zu einer gefährlichen Krise gekommen. Jetzt fühlte sie sich davon bedroht, daß die Verrücktheit wiederkehre, daß manifest würde, was sie immer schon befürchtete und was ihr auch von ihr nahestehenden Menschen signalisiert wurde: daß sie psychotisch sei, daß sie in der Irrenanstalt enden werde wie ihre Tante. Strukturdiagnose (Kernberg)
An dieser Stelle schalte ich eine diagnostische Überlegung ein. Wenn ich der Symptomliste des diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen, DSM-III-R, folge, muß ich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Wichtiger als die Symptomstatistik ist aber für die psychoanalytische Diagnose die strukturelle Analyse. Wenn ich Kernberg folge, treffen folgende Kriterien zu: 1. Eine instabile, unzureichend integrierte Identität, m.a.W.: das
Syndrom der Identitätsdiffusion: Im allgemeinen sind ihre Grenzen von Selbst und den
anderen gewahrt, in Krisensituationen kann es zu Grenzverwischungen kommen.(S.28) 3. Die Realitätsprüfung ist nicht zuverlässig. Es braucht nur erinnert zu werden an die von der Patientin als bedrohlich empfundenen Wahrnehmungsstörungen in der Vergangenheit und an die unangemessenen affektiven Reaktionen auf verständnislose Mitmenschen (Kernberg 1991, S. 36). 4. Es ist eine generelle ("unspezifische") Ichschwäche (ebd.39) festzustellen. Zusammenfassend könnte man sagen: In der Organisation der Persönlichkeit scheinen Strukturdefekte (oder -mängel) vorzuherrschen. Diese dürften für die psychischen Störungen und Symptome ursächlich sein, welche die Patientin in die Therapie bringen. Die Borderline-Diagnose ist also gerechtfertigt. Exkurs über die metapsychologische SpracheDurch die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung wird der Patient zum Objekt gemacht. Damit ist das Diagnose- und Therapieverfahren eingebunden in die allgemeinen gesellschaftlichen Objektivierungs- und Bürokratisierungszwänge. Nun unterschlägt oder entwertet die Individualpsychologie die objektvierenden psychoanalytischen Zugänge nicht. Wir sind eingebunden in das Wissenschaftsverständis unserer Zeit und in die gesellschaftlichen und ethischen Legitimationszwänge, in die Richtlinien der Zunft und des Gesundheitswesens. Wir brauchen diese objektivierende Annäherung, auch zu unserer Legitimation nach außen und zu unserer Selbstkontrolle gegen den Verdacht der Sektiererei. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß wir neben dem objektivierenden einen anderen Zugang suchen, der uns wichtiger erscheint. Wie diese beiden miteinander theoretisch vermittelt werden können, bleibt eine unbeantwortete Frage. Bild: Zustand
- Bewegung; Struktur - Dynamik; Wie ist (was hat) sie? - Worum geht es ihr? Wenn aber nur technisch, feststellend, normierend, machtförmig über den Menschen gesprochen wird: ... Bilder Dürer,
Leonardo, Picasso, Moore, Wand Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Funktion des Ichs in der Sprache der Ich- und Objektbeziehungstheorie bechrieben werden kann. Das Problem ist, ob in diesen Beschreibungen und Zergliederungen eine der Selbsterfahrung und den Leiden der Ratsuchenden angemessene Sprache gesprochen wird, ob überhaupt die ganze Sichtweise phänomengerecht und menschlich-human ist. Die sog. Finalanalyse. Individualpsychologische Ichanalase Kann man im Dialog nicht auch unmittelbar bezogen sein? Jeder Praktiker wird diese Frage mit Ja beantworten. Wenn die Analyse "läuft", worauf sind Analytiker und Analysand dann bezogen? Auf das, worum es dem Patienten eigentlich geht. So lautet unsere Standardantwort auf diese Frage. Mit der Frage: Worum geht es der Patientin eigentlich? ist der individualpsychologische Teil der Ichanalyse eingeleitet. Das Problem von Ich und Selbst in der Sicht der PatientinIch wende mich wieder der Patientin zu mit den Fragen: Auslösende Situationzu 1. Nach fast 10jähriger Ehe hatte sich die Patientin von ihrem Ehemann getrennt. Obwohl die Ehe in vieler Hinsicht für sie unbefriedigend gewesen war, fiel ihr die Trennung sehr schwer. Ihre Familie und Freunde rieten von einer Scheidung ab. Außerdem hatte sie sich verliebt. Darum plagten sie starke Schuldgefühle, Ängste, Depressionen. Sie ging zu psychotherapeutischen Beratungen zu einem Nervenarzt, der auch ihren Mann in die Gespräche einbezog. Ohne ihr eine eindeutige Diagnose zu sagen, tendierte die Beratung darauf hin, sie solle zu ihrem Mann zurückkehren und regelmäßig antidepressive Medikamente nehmen. Diese Empfehlungen ihrer wohlmeinenden Mitmenschen machten die Patientin nur noch unglücklicher. Ihr Mann will sich nicht von ihr trennen. Er ist äußerlich rücksichtsvoll und freundlich zu ihr; aber sie findet keinen emotionalen Kontakt zu ihm, er kommt ihr zwanghaft, ängstlich, arbeitswütig vor. Er hat am Anfang der Ehe nur äußerst wenig, später (fast) keine sexuellen Wünsche an sie. Sie meint, und die Leute geben es ihr auch so zu verstehen, sie sei schuld am Scheitern der Ehe, sie sei nicht ehefähig, sie sei überanspruchsvoll, überempfindlich, "schwierig" und nervenkrank. Ihre Verzweiflung steigert sich zu Suizidgedanken, die sich verselbständigen. Als sie dranghaft werden, folgt sie dem Rat ihrer Freundin. Sie begibt sich freiwillig in eine Nervenklinik. Aber schon nach zwei Wochen verläßt sie die Klinik gegen ärztlichen Rat, in der Meinung: "Wenn ich hier bleibe, komme ich nie wieder heraus." In dieser Geschichte sind die Grundzüge ihres unbewußten, unverstandenen Gemeinschaftsbezugs angedeutet. Die Lebensgeschichte bis hin zu den frühen Kindheitserinnerungen ist voll von Episoden desselben Musters, und auch in der Therapie konstellieren sich immer wieder ähnliche Krisen. Was ist der beherrschende Zug? Sie kann sich nicht verständlich machen. Sie meint, ein sicheres Gefühl zu haben; aber wie sie es mitteilt, wird es ihr nicht abgenommen. Im Gegenteil: Sie fühlt sich ins Unrecht gesetzt, als unrealistisch, überempfindlich, unnormal, schuldig hingestellt. Sie reagiert depressiv: sie zweifelt an sich, an ihren Gefühlen, an ihrem Wert, an ihrer Realitätswahrnehmung. Die ihr Nahestehenden meinen es gut mit ihr, sie aber kann es ihnen nicht recht machen; ja sie fühlt sich sogar von ihnen verstoßen, verdammt und vernichtet. Symptomatikzu 2.: Nun die Frage: Was sagt uns auf diesem Hintergrund das Symptom? Die Formulierungen und Bilder, die sie in ihrer Depression und Angst bedrängen: abrutschen, abstürzen, hineingeraten, Halt verlieren, sich nicht mehr einfangen können, in einen Sog geraten; eine Hand aus der Tiefe breitet einen Nebel über die Realität, zieht die Patientin hinab; Häuser stehen schief und biegen sich, drohen auf sie hereinzustürzen, Straßen wölben sich, sie fürchtet abzurutschen, der Raum bekommt röhrenförmige Länge, die Wände schwanken, die Straßenlaternen tanzen, der Partner rückt weit ab, Menschen, die sie beruflich betreute, nahmen verzerrte und verunstaltete Körperformen und Gesichtszüge an, verwandelten sich vor ihren Augen in Käfer; "wie in Kafkas 'Verwandlung'". Diese Gefühle treten auf, wenn sie sich falsch verstanden, abgelehnt und verurteilt fühlt. Übersetzen wir es in eine Symbolsprache: Die Patientin findet bei den Menschen, mit denen sie aufwächst, keinen festen Grund und Halt; sie lebt dort wie in feindlicher Welt, unter Folterern, Richtern, Henkern. Aber die alle haben eine liebenswürdige Gestalt, sie leben wie freundliche, besorgte, etwas eigensinnige, aber ganz normale Menschen. Die wohlmeinende Absicht dieser lieben Menschen zieht ihr den Grund und Boden, auf dem sie Stand sucht, unter den Füßen weg. Muß man da nicht an seinem Verstand zweifeln? Ich greife das Bild von Lévy-Strauss auf, der sich vorkommt wie ein Ort, eine Straßenkreuzung, an der etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. An dieser Straßenkreuzung stehen für die Patientin die Familienangehörigen als Wegweiser, vorab die Mutter, als Richter und Ausrichter. Sie weisen und locken in die Richtung auf Anpassung an ein gehobenes bürgerliches Kultur- und Bildungsideal, an einen Familiensinn, der geprägt ist von Tradition, Standesbewußtsein und Aufopferung. Aber für diese Patientin bedeuten diese Strebensziele, da sie daran versagt, Quellen von Scham, Schuld und Minderwertigkeit. Wir können dasselbe auch in einer noch abstrakteren begrifflichen, metapsychologischen Sprache formulieren: Die höheren Funktionen des Ichs, die höheren Formen der Identifizierung, das unterscheidende und verbindende, benennende und urteilende, schlichtende und streitbare Wort: sie alle sind mit negativen Affekten besetzt. Es ist festzuhalten, daß die Patientin auf allen diesen Gebieten keineswegs Defizite hat, wenn sie emotional unbelastet ist. Sie "kann" das alles; sie kann es nur nicht vertreten, wenn man es ihr zuschreibt oder von ihr fordert. Wenn ich nun die Begriffe Ich und Selbst benütze, verstehe ich unter dem Selbst alles, was die Patientin im ganzen, von Natur, gleichsam von selbst ist; das Ich soll hingegen sein, was sie im Spiegel der Beurteilung durch andere und in ihrer eigenen Selbstreflexion wahrnimmt. Es herrscht ein Zerwürfnis, ja eine Feindschaft zwischen dem Ich und dem Selbst der Patientin. Das Ich kann und darf nicht bejahen, was ihm vom Selbst, von selbst, in der Selbsterfahrung begegnet. Was aber begegnet ihr in der Selbsterfahrung? Da sind andere Ereignisse an der Straßenkreuzung dieses Lebensentwurfs. Da ist etwas Wildes, Naturverbundenes, Unabgegrenzt-Fließendes, ein Meer von Emotionalität, eine Flut von Phantasien, eine fast außersinnliche Aufnahme- und Ansteckungsbereitschaft. Das alles ist nicht unter Kontrolle zu bringen. Die Versuche, ihrer selbst im Sinne der Normalität mächtig zu werden, scheitern. Das Wilde ufert dann aus, droht das Ich zu verschlingen und zieht sich den Haß des Ichs zu. Es zeigt sich ein zweiter Wegweiser an der Straßenkreuzung: Wenn schon der Weg zu einem erfolgreichen und geschätzten Idealich nicht begehbar scheint, dann öffnet sich vielleicht der Weg in die Vernichtung. Die Suizidstimmung ist in diesem Sinne ganz wörtlich ein Selbstmordversuch, der Versuch des Ichs, das Selbst umzubringen. Für diese Feindschaft des Ichs gegen das Selbst gibt es Urbilder. Sie sind in den frühen Erfahrungen des Kindes begründet. Als es noch beinahe nur Selbst war und noch kaum ein Ich hatte, ist man/frau/Mutter/Vater/Welt dem Selbst des Kindes mit Feindschaft begegnet. Die behandelnde, benennende, beurteilende Mutterwelt war auf das Selbst des Kindes nicht eingestimmt. Nun aber der Sog, das Abrutschen, In-die-Tiefe-gerissen-werden: das ist Entsetzen, aber auch Faszination für die Patientin. Hier stehen wir am Scheideweg der Therapie. Es ist genau der Entscheidungspunkt auf dem Lebensweg der Patientin, der Grundkonflikt, in dem sie verharrt. Was sie aus einer tiefen Schicht als ihr wesenseigentümlich erfährt, konnte sie nicht in den Worten und Deutungsmustern der Erwachsenenwelt wiederfinden. Als Kind soll sie bis zum 5. Lj. mutistisch gewesen sein. Sie versucht, es einzuornden, unterzukriegen; aber vergeblich. Jeder psychologisch Gebildete hat bei der Symptomatik der Patientin das Wort "Regression" auf der Zunge, und der psychoanalytische Therapeut jeder Schule hört sein Überich mahnen: "Vorsicht: maligne Regression!" Die Gefahr soll nicht verharmlost werden. Und doch sei gerade an diesem kritischen Punkt daran erinnert, daß wir Individualpsychologen trainiert sind, zu fragen: Womit hat der Patient recht, ja speziell, womit hat das Symptom recht? Womit hat also die Patientin recht, wenn sie den Sog der Regression entsetzlich findet, aber auch faszinierend? Könnte es sein, daß sie von einem Bewußtseinszustand fasziniert ist, in dem sie sich gesund fühlen könnte, der aber von den verinnerlichten Wertungen ihrer Um- oder Mitwelt als entsetzlich verabscheut wird? Könnte es nicht sein, daß die Sehnsucht nach dem Urtümlich-Wilden ihr von den heilenden schöpferischen Kräften geschickt wird, daß sie in einer tiefen Ahnung ihre kosmische, naturhafte Verbundenheit spürt, daß ihr Normalseinwollen ihrem Selbst den Krieg erklärt? Könnte man etwa den ängstigenden regressiven Sog, die Überflutung mit Bildern aus dem Unbewußten als Rache ihrer Natur an ihrem Überich verstehen? Wird sie am Ende verrückt, weil sie sich vergeblich einem verrückten Kulturideal anzupassen strebt? Also gerade anders, als das Ich der Patientin fürchtet: In dem Entsetzlichen könnte Heilung liegen, wenn es, wie es eigentlich ist, sein dürfte. In der langen, geduldigen Analyse wagte es die Patientin allmählich, sich auf die gefürchteten Bilder einzulassen. Auch der Therapeut durfte erleichtert aufatmen. Die scheinbaren Wahrnehmungsverzerrungen waren keine Halluzinationen, sondern katathyme Bilder, die in den Erregungszuständen ins Alltagsbewußtsein vordrangen. Bestätigung und Führung auf diesem angstvollen Weg bekamen Patientin und Therapeut auch durch nächtliche Träume. Einer, der das Ich ängstigte und ihm doch eine Botschaft gab, zeigte die Patientin auf einem steilen Weg zur Quelle eines Bachs. Entlang ihres Weges brannten Häuser ab, die verlorenen Identifikationen und in Asche versinkenden Pseudo-Geborgenheiten. Ein anderer Traum, der dem Ich Mut zusprach, sich auf die dunklen Mächte einzulassen, schickte ihr trommelnde schwarze Erdmännchen, die der im Wald verirrten Träumerin voranschritten und sie bei der Einkehr in einem Schloß mahnten, sich dort nicht aufzuhalten. Ich fasse wiederholend zusammen: Was zeigt sich in dieser Sicht als Grundkonflikt der Patientin? Sie versucht, ein stabiles, abgegrenztes, starkes Ich zu entwickeln. Es gelingt ihr nicht. Sie wird von Gefühlen, Bildern und Rhythmen überflutet, die das Ich nicht unter Kontrolle halten kann. Sind das nun feindliche, psychotische Überschwemmungen, oder melden sich hier aus einem unbewußten Heilungswillen Botschaften, denen sie zu ihrer Selbstentfaltung folgen sollte? Fraglos: das ist ein gefährliches Abenteuer für das möchte-gern-autonome Ich. Darf sie es zulassen, daß Einfälle, Bilder, Stimmungen durch sie hindurchgehen, ihr Ich benützen wie eine Straßenkreuzung? Darf sie diesen Botschaften aus dem Unbewußten vertrauen? Wenn sie tatsächlich von selbst, aus dem Selbst kommen sollten, dann wird ins rechte Licht gerückt, was das gesunde Gegenstück der Ichschwäche ist. Für den gesunden Zustand des Ichs ist der Name Ichstärke geläufig. Man stellt sich darunter das autonome Ich vor, einen Souverän, der über den Es-Pöbel und dessen Abkömmlinge herrscht. Mit anderen Worten: Ichstärke wäre die willkürliche, normale und normative Verfügung des autonomen Subjekts über die im psychischen Apparat ablaufenden Prozesse. Das Scheitern der Patienten und unsere eigene Selbsterfahrung belehren uns aber, daß Ichstärke nicht Autonomie und Souveränität ist, wie es auch im Eingangszitat von Levy-Strauss dargelegt wurde. Wahre Ichstärke wäre Selbstvertrauen, Vertrauen auf die Fingerzeige und Wegweisungen aus dem Selbst, für die das Ich eine Straßenkreuzung bietet. Theoretische Reflexion: IchidentitätIch schiebe an dieser Stelle eine kurze theoretische Reflexion ein. Wer bin ich? Wie mag ich wohl sein? Das sind Fragen nach meiner Ichidentität. Hören wir, bevor wir die großen Väter der Tiefenpsychologie befragen, dem armen kleinen Ich-bin-ich zu. Schauen wir noch einmal in das Kinderbuch hinein: "Das kleine Ich-bin-Ich" geht aus, um sich zu suchen und kennenzulernen. Bilder Es trifft die Pferde, ein Nilpferd, die Fische, Vögel und Hunde und fragt sie alle: "Ob mir einer helfen kann?" Alle sagen, was sie sind. Das kleine Ich aber, das sich zu identifizieren sucht, muß erfahren, daß es nicht ein Frosch, daß es kein Pferd, kein Nilpferd, kein Fisch, kein Vogel oder kein Hund ist. Die Identitätskrise führt an den Rand einer Depersonalisation: "Durch die Stadt und
durch die Straßen Und das kleine bunte Tier, Was das Bilderbuch sehr schön zum Ausdruck bringt, ist, wie wir Identifikation suchen, um uns selbst zu finden, daß aber alle Identifikationen scheitern. Wir müssen uns auf uns selbst besinnen. Aber zuvor und zumeist identifizieren wir uns mit unserm Ich - oder mit einem Nichts? denn was soll das heißen: Ich bin ich? Ich glaube, in dieser Schlußpassage: "Sicherlich / gibt es mich: / ICH-BIN-ICH", kommt das zum Ausdruck, was man für das Gesunde hält. Es ist damit das philosophische Problem der Selbstgewißheit und der Subjektivität gestellt. Meines Erachtens reicht zu einer Klärung dieses Problems weder das begriffliche Werkzeug der Ichpsychologie oder Objektbeziehungstheorie noch das der Metapsychologie Freuds (Es, Ich, Überich). Adlers Ausführungen sind historisch noch älter als Freuds Metapsychologie; außerdem sind sie eher Aphorismen als eine Theorie; aber sein Ansatz könnte etwas weiterführen, wenn man ihn durchdenken und ausgestalten würde. Wie sieht die Individualpsychologie das Ich und die
Identitätsfindung? Die vorgetragene Falldarstellung sollte das Verständnis der folgenden
Feststellung vorbereiten: Vom ersten Schrei des Kindes an, sieht Adler die Ichentwicklung als ständigen, zunächst vorsprachlichen Dialog. Es lernt selbständig zielsicher handeln und seinen Platz in der Familie einnehmen. Bald "ist sein Handeln ein einheitliches geworden, und man sieht es auf dem Wege, sich einen Platz in der Welt zu erobern. Ein derartig einheitliches Handeln kann nur verstanden werden, wenn man annimmt, daß das Kind einen einheitlichen fixen Punkt außerhalb seiner selbst gefunden hat, dem es mit seinen seelischen Wachstumsenergien nachstrebt" (N.C. 66f.). Handkes Kaspar sagt als ersten Satz seines Bühnenlebens: "Ich möcht ein solcher werden, wie vor mir ein anderer gewesen ist." Freud und Adler sind sich einig: Das Selbstkonzept bildet sich durch Identifikationen. So sagt es auch die moderne Psychoanalyse. In der Individualpsychologie betonen wir darüberhinaus besonders die Intentionalität (Adler sagte meistens Finalität.) Die Identifikation ist nicht um ihrer selbst willen, sie hat eine Richtung und ein Ziel. Das Kind ist auf etwas aus. Seine Reaktionen und Handlungen passen in das soziale Geflecht, in das es hineinwächst. Es fühlt, hört und sieht, wie es ist und sein soll, und daraus lernt es, etwas werden zu wollen. Die Identifikation soll uns zu einem einheitlichen Persönlichkeitsgefühl verhelfen. Wenn das gelingt, fühlen wir uns gesund und sicher. In seiner Schrift 'Über den nervösen Charakter' schildert Adler Beispiele solcher frühen Identifikationen ("Gestalt des Vaters, der Mutter, eines älteren Geschwisters, des Lehrers einer Berufsperson, eines Helden, einer Tiergestalt, eines Gottes"). Dann fährt er fort: "Dieser Kunstgriff des Denkens hätte das Gepräge der Paranoia und der Dementia praecox, die sich aus den Schwierigkeiten des Lebens 'feindliche Gewalten' schaffen zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, wenn nicht dem Kinde die Möglichkeit gegeben wäre, jederzeit aus dem Banne seiner Fiktion zu entweichen, [...]" (N.C S.67) Ich möchte aus diesem Zitat festhalten: 2. Die "gesunde" Ichbildung sucht in Vorstellungsinhalten eine fiktive Identität, die dem Bewußtsein einen fixen Punkt im Chaos der Affekte und Eindrücke zu bieten scheint. Das gesunde Ich ist danach eine Nußschale im Strom des Bewußtseins (William James, James Joyce; moderne Literatur und bildende Kunst). 3. Formal und abstrakt gesehen, geschieht in der Ichbildung durch Identifikation dasselbe wie in der Ausbildung einer Psychose. 4. Im Kern der präpsychotischen Persönlichkeit, wir würden sie heute Borderline-Persönlichkeit nennen, herrscht eine katastrophale Identitätsverwirrung; denn 5. diese Menschen suchen ebenso wie die gesunden Sicherheit durch Identifikationsversuche; aber sie "(schaffen) sich aus den Schwierigkeiten des Lebens 'feindliche Gewalten' zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls". Das normale Kind kann wie das normale Ich des Erwachsenen mit den Stand und Halt bietenden Fiktionen spielen, sie loslassen, wenn sie nicht weiterhelfen. Die Neurotiker sind, wie Adler sagt, "ans Kreuz ihrer Fiktionen geschlagen". Sie müssen daran dogmatisch festhalten, selbst wenn sie dabei psychisch zu Tode kommen. Um ihres Überlebens willen halten sie an Verderben bringenden Identifikationsversuchen fest. Die paradoxe (negative) Identität der PatientinMit diesem Satz komme ich auf meine Patientin Frau P. zurück. Ist ihre Identität und Identitätsverwirrung nicht auch dadurch gekennzeichnet, daß sie "'feindliche Gewalten' zur Sicherung ihres Persönlichkeitsgefühls" zu benützen versucht? Die Analyse mußte weit voranschreiten, um diese innerpsychische Paradoxie aufdecken zu können, bevor der Widerspruch thematisiert werden konnte, den ich schon in der ersten Stunde empfunden hatte: Was war denn so schlimm daran, daß der Freund sie als "Powerfrau" eingeschätzt hatte. In gewissem Sinne ist sie es wirklich, ihr Selbst zeigt kraftvolle, schöpferische Seiten. Aber warum darf sie ihre "guten" Seiten nicht selbst bejahen? Warum darf sie sich nicht bewundern lassen? Sie erlebt diese Kräfte ihres Selbst nicht als Besitz ihres Ichs. Im Gegenteil, allzuoft setzen sie sich über die Interessen des Ichs mit seinem Wollen und Sollen hinweg. In den Konflikten mit der Mutter, mit der Familie, überhaupt mit Nahestehenden erlebte sie nicht nur gewöhnliche Interessengegensätze. Für sie geht es in den Fragen: Bin ich recht, bin ich schwierig und schuld am Leiden meiner Mutter? nicht um einen sozialen, interpersonellen Konflikt: Deine Interessen gegen meine Interessen. Sie steht immer am Rand des existenziellen und psychischen Zusammenbruchs. Das ist nur verständlich, wenn die Identitätsfrage das ganze In-der-Welt-sein der Patientin durchherrscht. Es geht für sie um Sein oder Nichtsein, um Lebensberechtigung oder Verdammnis. a) Es geht um das psychische Sein oder Nichtsein. Diese Alternative spiegelt sich in der Frage: Bin ich psychotisch oder nicht? Die wohlmeinenden Angehörigen, die Fachleute der Erziehung und Psychologie repräsentieren mit ihren Erfolgen und ihrer Selbstsicherheit deutlich, was normal ist. Gemessen an diesen Vorstellungen kann die Patientin sich nicht normal fühlen. Sie stellt das Menschen-, Welt- und Gesellschaftsbild ihrer Umgebung in Frage. Welche andere Antwort kann sie erwarten als die: Du bist verrückt. Die Mutter tut wirklich ihr Bestes, sie ist tolerant, hilfsbereit bis zur Selbstaufopferung, verzeiht die Fehltritte und depressiven oder hysterischen Anfälle der Tochter, ist immer bereit, es noch einmal zu versuchen. Wenn die Patientin also nicht verrückt ist, dann muß sie wohl undankbar, eigensinnig, egoistisch, moralisch minderwertig sein. Das ist die Patientin aber bekanntermaßen nicht. Ist es da nicht eine Entlastung, wenn man die Schwierigkeiten auf eine Erbkrankheit schiebt? Wahrscheinlich ist sie ebenso gemütskrank wie die Tante, die sie nach der eigenen Erinnerung mit 10-12 Jahren mit der Familie jeden Sonntag in der Heil- und Pflegeanstalt besuchen mußte. Die Regression in Depression und angstvolle Visionen ist wie ein Sog für die Patientin. Das Verlockende an der Vorstellung, verrückt zu sein: dann wäre sie nicht schuld an dem Kummer und Leiden, das sie der Mutter zufügt, sie würde, wenn auch als Kranke dazugehören. Wie Adler es formulierte: Sie wählt "feindliche Gewalten", nämlich die Vorstellung, psychotisch zu sein, zur Sicherung ihres Persönlichkeitsgefühls. Ohne Zweifel haben die Natur und die Bildung der Patientin ganz gewichtige Talente mitgegeben: Eine tiefe Empfindsamkeit, ein überdurchschnittliches schöpferisches Phantasietalent, eine unsprachlich intuitive und sensitive Wahrnehmungsfähigkeit und eine ebensolche rhythmische und motorische Ausdrucksfähigkeit, gepaart mit Vitalität, Bewegungsdrang, Konaktbedürfnissen. Aber wenn sie das auslebt, ist sie wiederum schuldig. Sie muß aus der häuslichen Gemeinschaft fliehen, wählt damit aber eine Existenz in Randgruppen, als Außenseiterin und Sündenbock. Wenn sie nicht verrückt ist, ist sie verstoßen. Dies aber ist ihr Stand am Scheideweg: Verrückt oder schuldig und verstoßen? Das erstaunliche ist, daß der Weg der Anpassung an die Familiennorm in gerader Linie eigentlich nie in Frage kommt. Sie versucht es zwar, scheitert aber damit immer. Ihr Anderssein setzt sich durch. Aber solange sie im familiären Interpretationshorizont bleibt, gibt es für ihre Identität nur Verrücktsein oder Schuldigsein. Das Verrücktsein verkörpert sich in dem Vorbild ihrer Tante. Auch für das Schuldigsein gibt es ein Modell: es ist die Figur des Judas, des Verräters. Als Kind hatte sie die Judasgeschichte immer wieder hören wollen. Er ließ sie nicht los. Er mußte schuldig sein, damit das Heilswerk Jesu seinen Gang gehen konnte. Die Patientin wählt "feindliche Gewalten", nämlich eine negative Identität, um dazuzugehören und sogar mit ihrer eigenen Existenz ihren Beitrag zu den Vorstellungen der Familie von der heilen Welt zu liefern. Definition der Identitätsstörung
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