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Die Einheit der Neurosen - immer noch?

Ist Adlers “Fundament der individualpsychologischen Methode” noch zeitgemäß?

von Karl Heinz Witte

(Vortrag bei den 15. Delmenhorster Fortbildungstagen fir Individualpsychologie, 1995; erschienen in: U. Lehmkuhl (Hg.), Heilen und Bilden - Behandeln und Beraten: Individualpsychologische Leitlinien heute, S. 189 - 202. München: Ernst Reinhardt. (Beiträge zur Individualpsychologie, hg. v. T. Ahrens, E. Fuchs-Brüninghoff u. U. Lehmkuhl, Bd. 22).

Das “Fundament der Individualpsychologie”

Eine allgemein bekannte Formulierung Adlers zur Kennzeichnung der Persönlichkeit oder, zeitgemäßer gesprochen, des Selbstes, lautet, das Individuum sei zugleich Künstler und Kunstwerk. Mit anderen Worten, das Ich werde “als eine Gebundenheit [betrachtet], die sich selbstschöpferisch bildet” (Adler, 1932h, 149; alle Hervorhebungen in Zitaten jeweils im Original). In dieser eigentümlichen Konstitutionsweise liegt der ontologische Grund der Einheit der Persönlichkeit. “In diesem Sinne ist jeder Mensch ein Künstler, denn er hat aus irgendwelchen angeborenen Faktoren und Möglichkeiten etwas geschaffen. Sein seelisches Bild ist daher eine Einheit. Das ist das Eingangstor zur Individualpsychologie, ihre notwendige Voraussetzung” (Adler 1926k, 135).

Es handelt sich um eine dreigliedrige Struktureinheit: Material - Bild - Künstler. Diese drei Strukturelemente sind streng zu unterscheiden und genauer zu differenzieren. Was verstehen wir unter diesen Strukturmomenten der Persönlichkeit? An dieser Frage entscheidet sich, welche wissenschaftstheoretische und methodische Position die Individualpsychologie Adlers im Konzert der psychologischen und psychoanalytischen Schulrichtungen einnimmt.

Ist es erstaunlich oder ist es charakteristisch für den Reflexionsstand unserer Zunft, daß die schmerzenden Diskussionen darüber, was Individualpsychologie oder Psychoanalyse sei (u. a. Datler 1991. 1992, Huttanus 1990. 1992, Presslich-Titscher 1991. 1992, Tenbrink 1990. 1992), niemals dieses von Adler selbst erklärte essential, die Einheit der Persönlichkeit, in die Betrachtung aufgenommen haben? Den wesentlichsten Hinweis hierzu hat Figdor (1992) gegeben: Es werden theoretische Konzepte, Rahmentheorien, Teiltheorien, axiomatisch-anthropologische Prinzipien, technische Regeln und methodische Forderungen miteinander verglichen, harmonisiert oder entgegengesetzt, deren Abstraktionsniveau, wissenschaftslogischer Topos, forschungsstrategische Funktion nicht zuvor bestimmt sind: “Ich frage mich, ob es nicht dringlicher wäre, die theoretischen Differenzen zu analysieren, bevor man sich an deren Vermittlung macht”, schreibt Figdor (ebd. 173), und ich stimme ihm zu. Figdor ergänzt, derselbe Mangel sei auch bei psychoanalytischen Schuldifferenzen zu beklagen, und ich möchte hinzufügen, daß ich allgemein eine allzu eilige Konzentration auf die therapeutische Pragmatik auf Kosten der Analyse beobachten zu müssen glaube.

Mein Wunsch ist es, ein paar Schritte auf dem Wege einer solchen Analyse der philosophisch-psychologischen Grundannahmen Adlers und der begrifflichen Gliederungen seiner Individualpsychologie zu gehen.

Die “Einheitsneurose”

Natürlich unterscheidet Adler, wie es seinerzeit üblich ist, verschiedene Neurosenformen nach den Symptomen. Sein Punkt ist aber, daß man noch nicht viel verstanden hat, wenn man eine symptombegründete Diagnose findet. Das Postulat der speziellen Neurosenlehren in der Psychoanalyse war ja, daß jede Neurosenform aus einer spezifischen Genese und Psychodynamik entspringe. Selbst wenn diese Behauptung richtig wäre und wenn auch noch die Dynamik der speziellen Neurosenformen erforscht wäre, würde Adler weiterfragen; denn diese Art der Spezifizität ist ihm noch zu unspezifisch. Ihm geht es nicht um die Spezifität einer Störung, sondern um die Individualität eines Menschen.

Auf einem oberflächlicheren Niveau könnte die Frage nach der Einheit der Neurosen aber im Rahmen einer Entwicklung neu angestoßen und diskutiert werden, die von psychoanalytisch orientierten Therapeuten allgemein als eher bedrohlich empfunden wird; ich meine die psychiatrische Manual-Diagnostik. Aus der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO (ICD-10) sind bekanntlich Neurosen und Psychosen ganz verschwunden. Wir werden es in Zukunft schwer haben, unsere gewohnten Neuroseformen unter den angebotenen Diagnosen unterzubringen. Das kann man bedauern (Titscher u. Strotzka 1985, Schuster 1986). Die Schwierigkeit mag aber vielleicht auch daran liegen, daß wir uns an den traditionellen psychoanalytischen Kanon gewöhnt haben, der von den nosologischen und demographischen Erhebungen der Psychiater nicht bestätigt wurde (Dittmann u. a. 1992, 84). Damit könnte - wenn erst die allzu einseitige Ausrichtung auf operationalisierbare, angeblich “theoriefreie” diagnostische Kriterien (Dittmann u. a. 1992, 10f.) aufhört, - Adlers “Einheitsneurose” ein unerwartetes Come-back feiern. Nach Adler könnte man ja “die” Neurose als eine narzißtische (Selbstwert- und Beziehungs-)Störung mit vielfachen und variablen Symptomen bezeichnen. Eine solche Definition würde allerdings voraussetzen, daß der Begriff “pathologischer Narzißmus” aus der einengenden Verklammerung mit frühen ichstrukturellen Störungen gelöst würde.

Ein einheitliches Neurosenmodell mit multipler Symptomatik, allerdings ohne psychodynamische Aspekte, haben Hand (1982) und - unter dem Kriterium der Beziehungsstörung - Wruck (1990) vorgeschlagen. Für eine einheitliche neurotische Störung mit gemischter Symptomatik scheinen auch die Untersuchungen von Tyrer (1986 u. 1987; s. a. Kendell 1986) zu sprechen.

 

Kritisches zur wissenschaftlichen Methode bei der Untersuchung des Einzelnen

Wenn die Untersuchung der Einheit der Persönlichkeit nach Adler das Fundament der individualpsychologischen Methode sein soll, stellt sich uns zweifellos eine entscheidende Frage: Können wir diesem Fundament noch trauen? Können wir darauf noch unsere Identität als Individualpsychologen gründen? Die Frage nach unserer wissenschaftlichen oder psychotherapeutischen Identität entscheidet sich an der Methode.

Bekannt ist Nietzsches Diktum: “Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft” (Nietzsche, 1977, 814).

Für die neuzeitliche Naturwissenschaft gilt, was Descartes als fundamentale Forderung formuliert hat: Alle ihre Erkenntnisse müssen durch eine certa methodos gewonnen werden. Das heißt: Wissenschaftlich erwiesen ist nur ein sicheres Ergebnis. Wissenschaft ist das Unternehmen, sicheres Wissen zu produzieren. Herrschaft der Methode in der Wissenschaft heißt: Nur was - prinzipiell - gesichert werden kann, was also der Rektifizierung oder Falsifizierung unterworfen werden kann, kann (darf) Gegenstand der Wissenschaft werden.

Der Physiker mißt nicht den Fall eines Apfels oder eines Blattes, sondern den Fall eines abstrakten Körpers. Rilkes tiefgründige Wahrnehmung, die er der Natur ablauscht, hat wissenschaftlich keinen Sinn: “Die Blätter fallen, fallen wie von weit. Sie fallen mit verneinender Gebärde.” I. Kant sagt, Naturwissenschaftler gingen nicht nach Art eines Schülers an die Natur heran, der sich von ihr belehren läßt, sondern in der “Qualität [...] eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt” (Kant, [1781, B, Vorr., XIV] 1975, 23).

Das Prinzip der Sicherung ist uns Individualpsychologen ja gut bekannt: Was nicht in mein Selbstbild paßt, wird ausgeklammert. Ins Selbstbild der Wissenschaft paßt nicht das Konkrete, Subjektive, Einmalige in seiner individuellen Eigenart. Dieses soll - unter bestimmten wissenschaftlichen Zielsetzungen - sogar aus der Psychologie ausgeklammert werden.

Differentielle Psychologie

Auch eine naturwissenschaftliche Psychologie kann sich mit der Einheit der Persönlichkeit befassen. Das Eine, das sie untersucht, ist dann das einzelne, der “individuelle” Fall einer Regel. Auch wenn das Lebens“gesetz” des Einzelnen für sich untersucht wird, muß diese Wissenschaft sicher sein, daß sie nicht Zufälligkeiten, sondern Gesetze entdeckt.

“Die Psychologie von Individuen ist nichts anderes als eine ins Extrem getriebene Spezielle Psychologie: die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten einer bestimmten Person. Es handelt sich also um die Spezialisierung der Allgemeinen Psychologie auf den Fall N = 1; die gefundenen Gesetzmäßigkeiten können nur auf die eine untersuchte Person verallgemeinert werden.” Daraus folgt: “Nicht-nomothetische Einzelfallanalysen liegen außerhalb der Psychologie als Naturwissenschaft des menschlichen Erlebens und Verhaltens” (Asendorp 1994, 9).

Die “Lebensprobleme”, das heißt die individuelle Sorge um die Lebensgestaltung des Einzelnen, und damit alles, was wir als Psychoanalytiker oder Individualpsychologen untersuchen, sind einer Wissenschaft, die sich dem Methodenzwang der Sicherung ihrer Ergebnisse unterwirft, nicht zugänglich. Wittgenstein, der diese Erkenntnis am Ende seines Tractatus logico-philosophicus ([1921/22, n. 6.52] 1993, 85) formulierte, zog daraus einen nicht nur logisch-philosophischen Schluß: “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen” (ebd. n. 7). Einige Zeilen zuvor sagt er, was sich nicht naturwissenschaftlich streng sagen läßt: “Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische” (ebd. n. 6.522). (Er versteht das Mystische nicht im engeren religiösen Sinne.) Wittgenstein gab seine akademische Karriere auf, verschenkte sein Millionen-Erbe, wurde Einsiedler, dann unglücklicher Dorfschullehrer. Später, als Bertrand Russel ihn in Cambridge für die Philosophie zurückgewonnen hatte, erkannte Wittgenstein: Sein Irrtum lag darin, daß er sich einem eingeengten Wissenschaftsbegriff unterworfen hatte (Bartley 1993).

Für einen Geist wie Wittgenstein, der sich nicht belügen konnte, hingen an der Frage der wissenschaftlichen Methode offenbar Identitätsstiftung oder Identitätsdiffusion. An diesem Beispiel können wir die wissenschaftliche, politische und existentielle Brisanz der Methodenfrage erahnen, freilich nur, wenn wir die Schlafröcke der Schul- und Institutszugehörigkeiten ausziehen.

“Die Unfähigkeit selbst der fortgeschrittensten Menschen, von ihren Gedanken Gebrauch zu machen, weil die Fähigkeit zu denken in uns allen rudimentär ist, bedeutet, daß das Feld für Untersuchungen [...] durch menschliche Unzulänglichkeit auf jene Phänomene begrenzt ist, die die Merkmale des Unbeseelten haben. [...] Es zeigt sich, daß unsere rudimentäre Ausstattung für das “Denken” von Gedanken angemessen ist, wenn die Probleme mit dem Unbeseelten zusammenhängen, nicht aber wenn der Gegenstand der Untersuchung das Phänomen des Lebens selbst ist. Konfrontiert mit der Komplexität des menschlichen Geistes muß der Analytiker vorsichtig damit sein, selbst anerkannten wissenschaftlichen Methoden zu folgen; ihre Schwäche mag der Schwäche des psychotischen Denkens näherstehen, als man bei einer oberflächlichen Überprüfung zugeben würde” (Bion 1992, 70).

Das wissenschaftliche Kontrastprogramm: Psychoanalyse als Studium des Individuellen

Für eine wissenschaftliche Methodik dieser Art bleibt Adlers Frage nach dem Individuum eine unbeantwortete Herausforderung. Nun gibt es, seitdem es die Wissenschaft gibt, auch eine Opposition dagegen, sie zum totalitären Herrschaftsinstrument der blinden Machtinteressen verkommen zu lassen. Gipfelpunkte der Philosophie des Einzelnen in Absetzung von den systematischen Versuchen, das Individuelle im Großen, Ganzen und Allgemeinen aufgehen zu lassen, sind für das 19. Jahrhundert mit den Namen Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und Freud bezeichnet. Sie alle standen in Opposition zur akademischen Gesellschaft.

Was ist das methodische Novum, das diese Autoren unwiderruflich in die Welt gesetzt haben? 1. Der unerbittliche Ausgang des Denkens von der eigenen Selbsterkenntnis und Selbstkritik. 2. Der radikale Argwohn gegen jede Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei.

Das Revolutionäre, “Kopernikanische” der neuen Methode Freuds (und Breuers) liegt darin, daß sie einem für unumstößlich geglaubten Grundsatz der neurologischen Zunft, der er als Kliniker angehörte, widersprach. Aus diesem Grunde konnten die Entdeckungen Freuds nicht an der Universität gemacht werden. Der Wissenschaft ging (und geht) es um Objektivität. Die Erkenntnisse sollen unabhängig sein von den Meinungen, Vorurteilen, Gefühlen und Interessen des Untersuchenden. Die Medizin betrieb (und betreibt) also die methodische Ausklammerung des Subjektiven aus dem Forschungsprozeß. Darüber hinaus glaubte (und glaubt) man, alle individuellen Bewußtseinsphänomene auf allgemeine physikalische oder biochemische Gesetzmäßigkeiten zurückführen zu können.

Um das Geniale der Freudschen Leistung zu würdigen, muß man es mit diesen Dogmen der naturwissenschaftlichen Psychiatrie konfrontieren. Wenn man Freud ankreidet, daß er einem szientistischen Selbstmißverständnis erlegen sei, indem er dem naturwissenschaftlichen Materialismus weiterhin Tribut zollte (Habermas 1973), so sollte man sich zugleich fragen, ob man Freuds forschendem Ursprungsimpuls auch nur annähernd gewachsen ist.

Lacan, der ein besonders scharfes Gespür für die Abweichungen der Psychoanalyse, vielleicht sogar Freuds selbst, von dem ursprünglichen “kopernikanischen” Impuls hatte, formuliert die entscheidenden methodischen Neuerungen präzise und mit Gespür für deren Tragweite: “Er [Freud] hat es gewagt, demjenigen Bedeutung beizumessen, was ihn selbst betraf, den Antinomien seiner Kindheit, seinen neurotischen Beschwerden, seinen Träumen. Aus diesem Grunde ist Freud für uns alle ein Mensch, der wie jeder andere im Schnittpunkte aller Kontingenzen steht - von Tod, Frau und Vater” (Lacan [1953/54] 1990, 7f.).

Gernot Böhme diagnostiziert einen grundsätzlich neuen Reflexionstypus. “Dieser durch Freud - und in gewissem Sinne auch durch Nietzsche - in die Welt gekommene Typ von Reflexion ist eine Art Schrägblick, ein Blick von hinten über die Schulter. [...] Man kann die Reflexion, um sie von der traditionellen, am Modell des Spiegels begriffenen zu unterscheiden 'oblique Reflexion' nennen” (Böhme 1992, 424).

Kein Wunder, daß Freud selbst seinen individualisierenden Impuls nicht durchhalten konnte und daß er ihn selbst desavouiert hat, indem er seine Autorität einsetzte, um die Zukunft der Analyse in seinem Sinn zu sichern, aus tiefem Mißtrauen, wie Lacan (ebd. 16f.) meint, gegen die Fähigkeit und Bereitschaft seiner Hörer und Schüler, ihn zu verstehen.

Adlers Individualpsychologie wurzelt vor seiner Rezeption Vaihingers in Nietzsches Denken. Die Methode der individualpsychologischen Psychoanalyse lernte er im Kreise Freuds kennen. Auch wenn sich Adler theoretisch-begrifflich von Freud und der Psychoanalyse absetzte, so hielt er doch (wenigstens bis etwa 1919, der 2. Auflage des Nervösen Charakters) an den methodischen Prinzipien der Psychoanalyse fest (siehe auch Ansbacher 1992). Man kann die individualpsychologische Methode im Kontext der Methodologien nicht ohne Rückgriff auf Freuds Innovation verstehen. Wie weit Alfred Adler mit seinem Programm der Individualpsychologie vordringen konnte, will und kann ich nicht beurteilen. Es wäre auch ungerecht, ein kritisches Urteil darüber abzugeben, da er, wie Freud, in einer wissenschaftlichen und politischen Umwelt wirkte, die seinem Konzept nicht nur verständnislos, sondern sogar feindlich gegenüberstand. Und höchstwahrscheinlich hatte Adler mit seinen Gefolgsleuten noch mehr Pech als Freud mit den seinen. Es ist aber nicht zu leugnen, daß er die Sicht der Einheit der Persönlichkeit als heuristisches Prinzip und als Fundament der individualpsychologischen Methode deutlicher und beharrlicher proklamiert hat als jeder andere seiner Zeitgenossen. Vergleichbar ist allenfalls William James (Bruder 1993), in dessen Tradition sich Adler gesehen hat. Ich glaube, daß er die Wahrheit sagt, wenn er sich wie folgt beklagt:

“Von der Ganzheit wird viel gesprochen; ich habe mich aber in der Literatur vergebens umgesehen, um den Nachweis zu finden, daß einer wirklich alles Denken, Fühlen, Wollen, Erinnerungen, Träume, kurz jeden Anteil auf dieselbe Lebensform bezogen hätte. Es sind fromme Wünsche, denen wir begegnen. Wenn ich und andere es versucht haben, die Einheit schärfer darzustellen, so sind das bisher die einzigen Versuche, die Einheitlichkeit der Person zu demonstrieren” (Adler 1932g, 85).

Adler: Die Einheit der Persönlichkeit

Wie allgemein bekannt ist, koinzidiert Adlers Lehre von der Einheit der Persönlichkeit, respektive der Neurose, mit seiner Sicht der Finalität. Die von der Fragmentierung bedrohte Persönlichkeit wird zusammengehalten durch ein konkret gefaßtes Ziel (individuelles Persönlichkeits-ideal) im Rahmen des allgemeinen Überwindungsstrebens (Wille zur Macht, Leben, Evolution, menschliche Gemeinschaft). Auf diesen thematischen Komplex will ich nicht eingehen. Ich verweise dazu auf den Vortrag von Gisela Eife (in diesem Bande).

Die Einheit der Persönlichkeit wird als eine dreigliedrige Struktur verstanden: Material, Kunstwerk, Künstler. In dieser metaphorischen Benennung verbirgt sich eine subjekttheoretische Crux, an der sich Psychologie und Psychoanalyse noch wenig abgearbeitet haben. Welchen Wegweiser vertritt an dieser Kreuzung Alfred Adler?

Der Gesichtspunkt des Materials ist für die Psychologie grundlegend, er ist aber nicht für die Individualpsychologie spezifisch. Er wird von der allgemeinen Psychologie, Entwicklungspsychologie, Psychopathologie, den verschiedenen Disziplinen der Humanbiologie und Medizin usw. beigesteuert. Alle diese positivistischen Wissenschaften legen Fakten und Befunde vor, an denen die Individualpsychologie natürlich nicht vorbeisehen kann. Sie sind aber nicht die Individualpsychologie, nicht Psychologie des Individuums in seiner einmaligen Lebensbewegung.

Das Kunstwerk

Für den Vergleich mit den modernen psychoanalytischen Theorien kommt nur das zweite Strukturelement aus Adlers Persönlichkeitslehre in Betracht: das Individuum als Kunstwerk. Es ist das eher “objektivierbare” Moment in der Einheit des Selbst: Das “Bild der einheitlichen Persönlichkeit” (Adler 1914h, 19) als Werk des Künstlers. Das Kunstwerk, die “Symphonie” (ders. 1926k 135), ist der Lebensstil (ebd.), also dasjenige Gebilde, das wir als ‘die Persönlichkeit’, als das ‘Ich’, als die “psychische Konstitution des Individuums” (ders. 1931 n/o, 196) an anderen wahrnehmen und als die ich mich selbst erlebe. In der neueren ichpsychologischen und objektbeziehungstheoretischen Psychoanalyse wäre dieses Strukturelement der ‘Persönlichkeit’ als das Selbst anzusprechen, als die Gesamtheit aller Selbstrepräsentanzen, als die psychische Struktur (Kernberg). Wohlgemerkt: Die Persönlichkeit, das Selbst als das Ganze der Selbstrepräsentanzen, das die Psychoanalyse untersucht, ist, genau betrachtet, nur ein Aspekt, eines der Strukturmomente der Einheit der Persönlichkeit im Sinne Adlers. Wenn die diagnostischen Inventare von Persönlichkeitsstörungen sprechen, dann ist, psychoanalytisch interpretiert, damit eine Störung gerade dieses Strukturelements gemeint, für das Adler den Ausdruck Bild der einheitlichen Persönlichkeit” gebraucht.

Wenn eine Metapsychologie Sinn hat, wenn ichpsychologische oder objektbeziehungstheoretische Untersuchungen in der Individualpsychologie heimisch werden sollen, dann haben sie hier ihren Platz. Auch wenn wir die Individualpsychologie oder Psychoanalyse nicht mehr auf eine Triebtheorie gründen wollen, so hat der Mensch doch Triebe, und auch wenn das “Bild der einheitlichen Persönlichkeit”, der Lebensstil, das Selbst (der Psychoanalyse) fiktiv sind, so haben sie doch faktisch eine frühkindliche Genese und eine differenzierte Struktur. (Die Einheit des Gesichts läßt ja auch Augen, Mund, Nase und Ohren zu.) Daß Individualpsychologen dieses Feld bearbeiten, die psychoanalytischen Erkenntnisse an die Individualpsychologie vermitteln und den Theoriestand vergleichen, ist für die tägliche Arbeit und für die Teilnahme am öffentlichen psychoanalytischen Diskurs unerläßlich. Worauf ich aber hinweisen möchte: Dieses Arbeitsfeld ist von der dreigliedrigen Struktur des Selbst in der Individualpsychologie nur ein Teil. Wenn sich das Selbst darin erschöpfte, Struktur, Gestalt, Lebensstil, Identität, Persönlichkeit, Charakter zu sein, könnte die Individualpsychologie in der Psychoanalyse ohne Rest aufgehen. Zwei theoretische Besonderheiten Adlers würden dann allerdings übersehen: 1. Das Selbst ist nicht nur “Bild”, sondern selbst der “Künstler”, 2. Adlers Auffassung von der Grundverfassung des Selbstes als Bild der Persönlichkeit (Gesamt der Selbstrepräsentanzen) unterscheidet sich sowohl von der psychoanalytischen Ichpsychologie wie von der Selbstpsychologie.

Die Einheit der Persönlichkeit als Fiktion

Oft wird das Konzept der Einheit und Ganzheit als besondere Auszeichnung der Individualpsychologie hervorgehoben. Das geschieht mit Recht. Aber Adlers Lehre von der Einheit des Selbstes kann nicht leicht zur narzißtischen Erhöhung unseres Selbstwertes dienen. Alle Ideale vom “Wahren Selbst”, dem unsere Therapie aufhelfen sollte, sind von Adlers Sichtweise her fraglich. Das Selbst hat nämlich in seiner Sicht nicht die Alternative, “wahr” oder “falsch” zu sein. Es ist immer fiktiv, das heißt: Es hat, qua Konstitution, keine Option auf Wahrheit oder Echtheit.

Hierzu einige Zitate: Adler schreibt, “ daß ununterbrochen an der Einheit der Persönlichkeit gearbeitet wird" (1926k, 137). Er spricht vom “Zwang zur Festhaltung der Einheit dieser Persönlichkeit” (ebd. 140), von der “andauernde[n] Festhaltung eines einheitlichen Zieles” (ebd.); oder Adler formuliert: Die “geforderte Zielsetzung erzwingt die Einheit der Persönlichkeit und ihre individuelle Gestaltung, den Lebensstil” (1926x, 159).

Diese Äußerungen Adlers werfen ein kritisches Licht auf den Versuch, die Individualpsychologie durch das Empathie- und Strukturbildungskonzept der Selbstpsychologie Kohuts zu interpretieren und zu ergänzen, der besonders von Tenbrink (1990 u. 1994) vorgetragen wird. Die Bedrohung des Selbstes durch Fragmentierung wird von Tenbrink im Anschluß an Kohut als Entwicklungsstörung verstanden, die durch die geeigneten Mittel (Empathie, Selbstobjekt-Beziehungen, therapeutische Selbstregulationshilfen) behoben werden kann. Wenn ich aber Adler ernst nehme (und noch mehr natürlich Heidegger, auf den Tenbrink sich beruft), muß das Konzept der Selbststabilisierung, Selbstsicherung und Selbststimulierung durch Selbstobjekte zum Zusammenbruch der therapeutischen Beziehung oder zur folie à deux führen, wenn der Patient die Nagelprobe der Belastbarkeit und Zumutbarkeit verlangt. Das liegt weder an der Ausbeutungstendenz des Patienten noch am Versagen der Empathie des Therapeuten, sondern daran, daß beide etwas Unmögliches anstreben. Die Stabilität und Sicherheit des Selbstes ist eine Fiktion. Wenn sie zum Dogma erhoben und mit Hilfe des Therapeuten realisiert werden soll, ist die Psychose nahe. Freilich ist die Vorstellung, man könnte das Selbst durch geeignete psychologische Mittel stabilisieren und - sagen wir es geradeheraus - glücklich machen und sogar das wahre Selbst freisetzen, Wasser auf die Mühlen der westlichen Konsum- und Selbstrealisierungsgesellschaft, die diesem kollektiven Wahn huldigt: das wahre Selbst oder das Selbst als Ware.

Mit Lacan gegen den Mainstream der Psychoanalyse

Das ist von Adler und auch von einer kritischen Psychoanalyse weit entfernt. Nun müßte ausführlich gezeigt werden, in welcher Denktradition Adler mit seiner These von der fiktiven Schöpfung einer stabilen Persönlichkeit steht und in welche Denkrichtung diese Sicht des Subjekts - über Adler hinaus oder an Adler vorbei - weitertrieb, diese Sicht vom Ich, das einerseits eine zentrale, beherrschende Rolle spielt, aber andererseits eine fiktive Einheit sein soll. Doch heute kann ich nur exemplarisch die Richtung aufzeigen, in die dieses Denken unterwegs ist. Ich will nur partem pro toto anführen, mit einem Namen, der in ein ganzes Netzwerk von gleichsinnigen Denkern eingeflochten ist, andeuten, was auf dem Spiele steht.

Die These, das Ich sei eine Fiktion, verbindet sich in der Psychoanalyse mit dem Namen Lacan, wie Adler auch ein Dissident und Ausgestoßener. Lacan findet kräftige Worte: “Womit haben wir es heute zu tun? Mit einer theoretischen Kakophonie, mit einer erschütternden Umwälzung der Positionen” (Lacan [1954/55] 1991, 18). Was meint Lacan? - Daß “Freuds metapsychologisches Werk nach 1920 von der ersten und zweiten Generation nach Freud - diesen unfähigen Leuten - schief gelesen, in delirierender Weise gedeutet worden ist” (ebd.). Lacan meint, Freud habe auch bei der Einführung der Metapsychologie beabsichtigt, “das Prinzip der Dezentrierung des Subjekts aufrechtzuerhalten”. “Aber weit davon entfernt, daß er verstanden worden wäre, wie es nottat, es gab einen allgemeinen Aufruhr, eine veritabe Befreiung der Schüler. - Ach, da ist es ja wieder, das brave kleine Ich! So trifft man sich wieder! Wir betreten wieder die Wege der allgemeinen Psychologie” (ebd. 19). “Monsieur Hartmann, der Cherubin der Psychoanalyse, verkündet uns die große Neuigkeit, die uns erlauben wird, ruhig zu schlafen - die Existenz des autonomen Ego. Dieses Ego [...] wird uns auf einmal als eine zentrale Gegebenheit zurückerstattet” (ebd. 20). Und wie es sich für einen subversiven Psychoanalytiker gehört, fragt Lacan nach den verheimlichten Interessen dieser Re-Inthronisierung des Ichs in der modernen Psychoanalyse. “Offenbar haben wir alle die Neigung zu glauben, daß wir wir sind.” Aber über diesen “ziemlich gewöhnliche[n] Wahnsinn” hinaus: “Es handelt sich strenggenommen um ein soziologisches Phänomen, das die Analyse als Technik betrifft oder, wenn Sie so wollen, als Zeremoniell, als durch einen bestimmten sozialen Kontext determiniertes Priestertum” (ebd. 20).

Lacan ist, wie Sie hören, ein scharfer Kritiker der psychoanalytischen Ichpsychologie. Auch die Individualpsychologie wird für eine Ichpsychologie gehalten. Mit Recht, aber in einem kritischen Sinn. Adler hat sie entworfen als eine Lehre von den Winkelzügen des Ichs, und zwar ursprünglich nicht nur des neurotischen, sondern des normalen Ichs, das sich mächtig oder listig-schwach aufbaut, um sich vor der Aufdeckung seiner vermeintlichen Wertlosigkeit, in Wahrheit aber vor der Erkenntnis seiner Nichtigkeit bzw. seiner mangelnden mitmenschlichen und kosmischen Bezogenheit zu sichern.

Gemeint ist hier - mit Lacan gedacht - die psychische Instanz oder das Ich (moi) meiner Identität, als welches ich erkannt werde und für das ich mich halte, im Unterschied zum ‘Ich’ (je) als Subjekt, das allen Bewußtseinsakten als Ursprung inhärent ist, nicht objektivierbar und nicht einmal der Reflexion zugänglich (Sartre 1982, 55f.). Bekanntlich betrachtet Lacan “das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion” (1949). “Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung” (Lacan 1949, 64). Lacan lehrt also, daß wir unser Ich-Bewußtsein, speziell was heute Ich-Identität heißt, in einem Akt der Identifikation mit einer vorgestellten Form gewinnen. Das Gravierende daran aber ist, daß schon mit dieser Konstitution unseres wahrgenommenen und vorgestellten Selbstes eine unüberwindliche Selbstentfremdung und Selbstverkennung installiert ist, “daß diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muß” (ebd. 64).

Es ist nicht zu verkennen, daß Lacans Entwurf unvergleichlich kühner und differenzierter ist als das philosophische Funkenstieben Adlers, das alsogleich durch seinen berühmten Pragmatismus erstickt wird. Doch hätten wir uns zu fragen, mit welchem Autor, der in dieselbe Richtung wandert, wir nach Adlers erstem Schritt den zweiten tun wollen; es könnte Lacan sein oder ein anderer. Mit Kernberg, Kohut oder Tilman Moser allerdings fallen wir meines Erachtens hinter Adlers (und Freuds!) ersten Schritt zurück.

Wollten wir mit Lacan gehen, kämen wir der Adlerschen Radikalität näher, die wahr sein läßt, was seit Nietzsche niemand mehr sollte leugnen können, daß - mit Lacan formuliert - die “fundamentale Funktion” des Ego das “Verkennen” ist (Lacan 1953/54, 71). Auch der folgende Satz Lacans ließe sich mit Adler lesen: “Das Ich ist genauso wie ein Symptom strukturiert. Es ist das menschliche Symptom par excellence, es ist die Geisteskrankheit des Menschen” (ebd. 24).

Der Sinn der Bemerkung Lacans, das Ich sei genauso wie ein Symptom konstruiert, ist erst zu verstehen, wenn das Fiktive der Persönlichkeitsbildung radikal ernst genommen wird. Die gleiche Grundposition hat auch Adler (s. dazu Witte, 1991). Adler sieht den Charakter als eine “Hypostasierung” und “Heiligung” von Sicherungstendenzen an (1912, 37). Er meint, daß dem Fließenden, Funktionellen des Lebensvollzugs fiktiv ein substantielles Sein beigemessen wird. In der Selbsterfahrung haben wir dabei das Phänomen, daß das 'Ich' (je) zu einem Objekt wird.

Almuth Bruder-Bezzel (1987) hat Adlers Lehre von der Ganzheit im Rahmen der Psychologiehistorie gewürdigt. Sie sieht die Bemühung der New-Age-Bewegung um die Ganzheit wie die romantische (neoromantische) Ganzheits- und Gestaltpsychologie, die in Diltheys Lebensphilosophie einen Gipfel findet, als eine soziale und politische Reaktion gegen die Zerstückelung des Lebenszusammenhanges durch Wissenschaft und Arbeitsorganisation. Sie wehrt sich mit Recht gegen die immer wieder auftauchende Behauptung einer “Affinität des Ganzheitsbegriffs zum Faschismus” (S. 79). Sie beobachtet vielmehr eine “Indienstnahme” dieser Ideen für den Faschismus.

“Der Ganzheitsbegriff verleitet zu harmonistischen Verschmelzungsideen, zur Widerspruchslosigkeit - das beobachten wir heute wieder in hohem Maß. Und wir beobachten auch (wieder), daß mit der Idee der Ganzheit, der Einheit des Individuums und seinem Zusammenhang mit seiner Umwelt hierarchische Ideen, Postulate der Unterordnung des Individuums unter 'das Ganze' verbunden werden. Dies ist aber nur die scheinbare Logik der Ganzheitsidee, es ist viemehr die Logik der - unabhängig von Ganzheitsideen virulenten und wiederbelebten - Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten, die um so eher der ideologischen Überhöhung bedürfen, je krasser diese werden” (80f.).

Diese sehr richtigen Überlegungen bewegen sich in der Dimension der Einheit und Ganzheit als realen Entitäten oder Strukturmerkmalen. Es ist notwendig, die Ganzheitsidee hier gegen die ideologischen Unterstellungen und Verdächtigungen in Schutz zu nehmen, ohne daß wir die Augen vor dem möglichen und tatsächlichen Mißbrauch verschließen. Aber die Gedanken Bruder-Bezzels müßten, mit Adler, auf den Ursprung der Einheitsthese hingelenkt werden, auf die transzendentale Dimension des “Schöpferischen” in der Selbstgestaltung.

Der Künstler

An dieser Stelle eröffnet sich also ein Ausblick auf die Forschungsrichtung, die Adler eingeschlagen hat, wenn er von der Struktur der Persönlichkeit als einem “Kunstwerk” zurückfragt auf die schöpferische Kraft des “Künstlers”. Darin liegt m. E. die Besonderheit der Theorie Adlers. Wenn ich im Titel des Vortrags frage, ob die Einheit der Persönlichkeit als Fundament der individualpsychologischen Methode noch zeitgemäß sei, hier ist die Stelle, diese Frage emphatisch mit Ja zu beantworten. Ich möchte sogar sagen: Wir stehen erst am Anfang der Erforschung dieser Auszeichnung des Individuellen, auf die Adler hindeutet: “Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit” (1976a, 7).

Es gilt also - philosophisch und individualpsychologisch - nach dem Subjekt zu fragen, nach dem 'Ich' (je), das mich (moi) denkt, vorstellt, gestaltet, für wert oder unwert hält. Diese Forderung entspringt nicht einer Lust an philosophischer Interpretation. Adler selbst war diese Rückfrage von der Gestalt des Ichs (moi, Kunstwerk) auf das gestaltende Ich (je, Künstler) wichtig. Diese Rückfrage ist ihm das Unterscheidungsmerkmal der Individualpsychologie von der Gestaltpsychologie, die er ansonsten schätzt: “Ein besseres Verständnis [als die Psychoanalyse] für diesen Zusammenhang zeigt die Gestaltpsychologie, die sich wie wir des öfteren dieses Gleichnisses [Gestaltung der einzelnen Noten zur Melodie] bedient. Nur daß wir uns mit der 'Gestalt' oder, wie wir zu sagen vorziehen, mit dem 'Ganzen' nicht befriedigt erklären, wenn wir alle Noten auf die Melodie beziehen, sondern erst wenn wir in ihr den stellungnehmenden Urheber, z. B. Bach, Bachs Lebensstil erkannt haben” (1930j, 41).

Nach dem 'Ich' (je) als Quelle und Ursprung hat die Psychologie - außer vielleicht William James (Bruder 1993) - nicht oft gefragt. Dieses 'Ich' kann in Wahrheit auch gar nicht befragt werden, denn so befragt und erst recht in jeder möglichen Antwort ist es schon nicht mehr, was es ist (Sartre 1982, 55f.).

Wenn wir dem nachgehen wollten, müßten wir die folgenden Sätze Adlers interpretieren:

“Wenn wir beginnen vom 'Seelenleben' zu sprechen, begeben wir uns auf transzendentales Gebiet” (1932g, 236f.). - “Es ist eine schöpferische Kraft im Seelenleben vorhanden, die identisch ist mit der Lebenskraft selbst” (ebd. 237). - “Es genügt vielleicht, darauf hinzuweisen, daß bei Kant die sichere Festsetzung der Einheitlichkeit der Persönlichkeit zu finden ist, ohne die eine psychologische Untersuchung überhaupt nicht denkbar wäre. Wir sind nun einen Schritt weiter gegangen und haben in die Entstehung dieser Einheit der Persönlichkeit Licht hineingebracht” (1926k, 136).

Die Zitate deuten an, daß hier ein Grenzbereich von Philosophie und Psychologie angesprochen wird. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, die psychologischen Fragen könnten ohne Rücksicht auf Philosophie bearbeitet werden. Stolorow, der mit seinen Mitarbeitern die Selbstpsychologie über Kohut hinausgehend zu einer Analyse der Intersubjektivität entwickelt hat, unterscheidet klar zwischen je und moi, Künstler und Bild der Persönlichkeit. Aber er bleibt psychoanalytisch konservativ, wenn er nur den strukturellen Aspekt des Selbstes als Gegenstand der Psychoanalyse zuläßt:

“We have found it important to distinguish sharply between the concept of the self as a psychological structure and the concept of the person as an experiencing subject and agent who initiates action. Whereas the self-as-structure falls squarely within the domain of psychoanalytic investigation, the ontology of the person-as-agent, in our view, lies beyond the scope of the psychoanalytic inquiry. Psychoanalysis can only illuminate the experience of personal agency or its absence in specific contexts of meaning” (Atwood u. Stolorow 1984, 34).

Ich denke, diese Stellungnahme spiegelt den Stand der psychologischen Reflexion des Problems. Von Adler angeregt, sollten wir, meine ich, da weiterfragen. Denn auch psychoanalytisch können wir nicht die Struktur des Selbstes untersuchen, ohne zuvor Verständigung darüber zu suchen, aus welcher Dynamik das Selbst entspringt.

Eine Interpretation müßte ins Herz der Lebensphänomenologie vordringen. In seinen philosophischen Analysen ist Rolf Kühn (1992), ausgehend von der französischen Phänomenologie, diesen Weg am konsequentesten und am weitesten gegangen.

“Das Individuum ist (aufgrund der individuellen Sinnlichkeit [erg. R. Kühn]) das Ganze des Seins; darin und dadurch ist das, was ist, in einem Ganzen enthalten und stellt sich als solches vor” (Michel Henry, zit. Kühn, ebd. 454). “Heute ist die Erniedrigung des Individuums nicht nur oft eine Folge politischer Umstände, sondern sie beruht auf einer theoretischen Allgemeinheit, sofern die Objektivität sich als einzig vorstellbarer Ort aller Wahrheit ausgibt. Die Ausschaltung des Lebens und des Individuums beruht auf einer wesenhaften Zuordnung von theoretisch generalisierender Verobjektivierung und politischem Machtanspruch, [...]. Die absolute Subjektivität definiert ein absolutes Hier, wo ich stehe - besser gesagt: welches ich bin” (Kühn, ebd. 455).

In der Individualpsychologie hat Günter Heisterkamp (1990) mit seinem Konzept der Lebensbewegung diesen Weg am entschiedensten eingeschlagen. Doch leider verdinglicht er das Selbst als Bewegung zu schnell wieder, wenn er die Neurose im wesentlichen als Blockade definiert und wenn er meint, der Bewegung durch Mitbewegung aufhelfen zu können.

Eine Interpretation müßte sich ferner auseinandersetzen mit der biologischen Erkenntnislehre, der Autopoiesis, der Subjektkritik im Poststrukturalismus, mit der Phänomenologie Husserls und vor allem mit Heidegger (s. a. Padrutt 1995).

 Hier öffnet sich ein Tor, vor dem wir stehenbleiben wie Kafka vor dem Türhüter des Gesetzes.

Literatur

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Sartre, Jean Paul: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931 - 1939. Hg. v. Bernd Schuppener. Rowohlt, Reinbek, 1982

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Tyrer, Peter: New rows of neuroses: Are they an illusion? In: Integrative Psychiatry 4, 1986, 25 - 28

Witte, Karl H.: Ich-Identität in der Psychoanalyse und Persönlichkeitsideal bei Alfred Adler. In: Zeitschrift für Individualpsychologie 16, 1991, 11 - 28

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Karl Heinz Witte, Dr. phil.
 St.-Anna-Platz 1
D-80538 München
Tel.: +49 (0)89 29 16 19 42
Fax: +49 (0)89 29 95 18
E-Mail: witte@muc.de

 

Witte, K. H. ( 1995). Die Einheit der Neurosen - immer noch? Ist Adlers "Fundament der individualpsychologischen Methode" noch zeitgemäß? In: U. Lehmkuhl (Hg.), Heilen und Bilden - Behandeln und Beraten: Individualpsychologische Leitlinien heute., S. 189 - 202. München: Ernst Reinhardt. (Beiträge zur Individualpsychologie, hg. v. T. Ahrens, E. Fuchs-Brüninghoff u. U. Lehmkuhl, Bd. 22).

Inhalt des Bandes 22 der Beiträge zur Individualpsychologie

 

Rainer Schmidt

Das Konzept von Heilen und Bilden - Individualpsychologie im Kanon der heu-

          tigen Tiefenpsychologie     9

 

Albrecht Schottky

Menschen - Fälle - Gutachten     23

 

Bernhard Handlbauer

Von" schlampigen Konflikten" und" großen Neurosen" - Ein neuer Blick auf die

          Freud-Adler-Kontroverse      33

 

Reinhard Brunner

Über die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls in einer Zeit zunehmender Pro­

          fessionalisierung         48

 

Ronald Wiegand

Gesellschaftsverstand - Zum Verhältnis von Konflikt und Gemeinsinn   61

 

Hans Josef Tymister

Daseinsanalyse und Individualpsychologie 79

 

Sigrun Koch

Benötigen wir eine neue Definition des Gemeinschaftsgefühls?             

 

Günter Heisterkamp

Psychotherapie aus der Mit-Bewegung. Formen "der" Empathie    101

 

Gisela Eife

Das Leiden an den Zielen  120

         

GünterVogel

Chancen und Grenzen ambulanter analytischer Gruppenpsychotherapie      132

         

Wilfried Datler

Ist der Begriff der Fiktion ein analytischer Begriff? Einige Bemerkungen zur

          Mehrgliedrigkeit unbewußter Abwehr- und Sicherungsaktivitäten 145

 

Carola Ammon

"Ich bin die Kröte und trage den Edelstein". Wir nennen es Minderwertigkeits­

          gefühl und leben in zwei Wirklichkeiten           157

 

Albrecht Stadler

Spiel mit dem Feuer. Angst - oder die Fiktion von der Unverletzlichkeit         171

 

Ulrich Hirtz und Bernd Radtke

Männlicher Protest - Terror des Vergessens           180

 

Karl Heinz Witte

Die Einheit der Neurosen - immer noch? Ist Adlers "Fundament der indivi­

dualpsychologischen Methode" noch zeitgemäß? 189

 

Heiner Heister

Aspekte der Hysterie - Neurose oder neurotisches Phänomen? 203

 

Namenverzeichnis      214

 

Sachverzeichnis          217